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Literatur: Eine Sehnsucht, ganz egal wonach

Ich bin dann mal weg: Tagesspiegel-Redakteure empfehlen Bücher über das Reisen

Planken, die die Welt bedeuten. Für Richard Fleischhut waren die Decks der Ozeandampfer des Norddeutschen Lloyd, auf denen er ab 1905 als Bordfotograf seinen Lebensunterhalt verdiente, mehr als bloß schwankendes Terrain. Sie waren ein gesellschaftliches Parkett: Laufsteg der High Society, Promenade des Geldadels. Fleischhut porträtierte die Filmstars, die Dirigenten und Operndiven, Verleger, Industriebarone und Sportler, die auf der einwöchigen Passage zwischen Europa und Amerika wie in einem Zeitloch festsaßen. Nirgendwo kam man Stars wie Marlene Dietrich, Buster Keaton, Cary Grant, Toscanini, Max Schmeling, Louis Trenker, Elly Beinhorn, Noel Coward oder Rachmaninoff näher als hier, auf ihren transkontinentalen Überfahrten (Bremen-New York) oder auf einer der zahlreichen Trips nach Asien und Afrika, die heute Kreuzfahrt genannt würden. Aber dem Bildermacher Fleischhut ging es um mehr als maritime Romantik. Für ihn waren Schnelldampfer wie „Kronprinz Wilhelm“, „Columbus“ und „Bremen“ schwimmende Exklaven eines Welttheaters, eine Bühne der Globalität. Aus Reisenden wurden hier Touristen, deren Abenteuer nach Fahrplan stattfanden, die den Luxus mitnahmen, andere dafür arbeiten ließen und auch eines Chronisten wie seiner bedurften. Das nutzte er aus, denn der Mann, der Konditor gelernt hatte, war selbst neugierig auf die Welt. Und so erschloss er sie sich wie ein Reporter.

Zu den beeindruckendsten Aufnahmen des liebevoll gemachten Bildbandes „Mit der Kamera um die Welt“, der das fotografische Werk von Richard Fleischhut aus der Versenkung holt und eine Ausstellung des Deutschen Technikmuseums Berlin begleitet, zählen seine Sturmstudien. Sie zeigen mächtige Wasserberge und die Gewalt der Elemente, in denen selbst Stahlungetüme von 30 000 Tonnen winzig wirken. Heute sieht man sie wie eine Metapher. Denn der Sturm, der dem Juden Fleischhut wirklich gefährlich werden sollte, braute sich in seiner Heimat zusammen.Kai Müller

Mit der Kamera in die Welt. Richard Fleischhut (1881-1951), hrsg. v. Hermann Haarmann u. Ingrid Peckskamp-Lürßen, Kettler-Verlag, Bönen 2005, 295 S., 36 €.

Ach, Triest. Der junge Joyce war mal da, als Englischlehrer, Rilke halluzinierte über dem Meer die „Duineser Elegien“, der berühmte, vergessene Schauspieler Alexander Moissi wurde in der Stadt am Karst geboren. Triest ist ein Ort, wo Geschichten beginnen oder enden. Richard Burton – nicht der Schauspieler, sondern der Kolonialoffizier, Abenteuerer, Schriftsteller – hockte in Triest schließlich wie im Exil. Nach unglaublichen Jahren in Indien, Afrika, USA, wer weiß, wo er überall ins Unbekannte vordrang. Letztes Jahr hat Ilija Trojanow über Burton (1821 – 1890) den großen Roman „Der Weltensammler“ veröffentlicht, hier geht er ihm nun noch einmal nach, in dem herrlich illustrierten, typografisch hinreißenden Band „Nomade auf vier Kontinenten“. Was ist das – ein Recherchebericht? Ein Reisebuch? Ein making of des „Weltensammlers“? Eine Fortsetzung? Von all dem ein bisschen, und mehr. Burton selbst kommt zu Wort – aber wer kommentiert eigentlich wen? Trojanow seinen flüchtigen Helden Burton, oder umgekehrt? Wer kommt an, wer geht fort? Immer ähnlicher werden sich die beiden Reisenden über die Zeiten hinweg, um sich am Ende wieder fremd zu sein. So wie es geschieht auf Reisen, bei der Arbeit, zwischen Menschen überhaupt. Trojanow zu lesen, macht seltsam gute Laune. Man schlägt das Buch auf, und der Ort, an dem man ist, beginnt sich zu verändern, die Entfernung verschwimmt ebenso wie die Nähe. Rüdiger Schaper

Ilija Trojanow: Nomade auf vier Kontinenten. Andere Bibliothek, Frankfurt 2007, 444 S., 24,95 €.

Mein Lieblingskapitel? Das siebente unter den zwölf, in denen der Ich-Erzähler auf der Suche nach einem verschollenen Freund oder vielleicht auch nur nach sich selbst kreuz und quer durch Indien reist. Es spielt in der tropischen Nacht wie alle anderen, aber nicht an fester Adresse wie dem Taj- Mahal-Luxushotel in Bombay oder in einem schlichten erzbischöflichen Archiv in Velha Goa, wo Antonio Tabucchi sein „Indisches Nachtstück“ kapitelweise zwischenlanden lässt, sondern am eigentlichsten Ort allen Reisens: unterwegs. An einer Fernstraßenkreuzung zwischen Madras und Mangalore wartet der Überlandbus auf einen anderen, man steigt aus, raucht, streift umher, und in der nur von einer Petroleumfunzel ausgeleuchteten Wartebaracke sieht der Erzähler einen Jungen mit seltsamem Schemen auf der Schulter kauern. Ein Äffchen vielleicht? Nein, ein Mensch, wie sich im Näherkommen herausstellt, ein verwachsener winziger Mensch. Und wieder entspinnt sich eines der ungeheuer sanften, absichtsvoll zufälligen Gespräche dieses Buches, das ist mein älterer Bruder, sagt der Junge, und ein Prophet ist er auch, er kann das Karma von Pilgern lesen. Und weil das Warten nicht aufhören will, weiß der Hellseher gegen ein paar Rupien, wo die Seele des Erzählers sich gerade befindet: auf einem Boot, flüstert er seinem Bruder ins Ohr, einem Boot mit vielen Lichtern. Schmerz und Glück: Nie ist die Seele, wo der Körper ist; nicht einmal auf Reisen. Jan Schulz-Ojala

Antonio Tabucchi: Indisches Nachtstück. dtv, München 1994, 128 S., 7,50 €.

Fiebrige Sprache. Staubschleier über blutigen Sonnenuntergängen. Nahaufnahmen: ein sterbendes Pferd, das Herzklopfen des Tamburins, eine an der Trauer irre gewordene Araberin, die schlummernde Gewalt in den Augen der Männer. Isabelle Eberhardts Reiseberichte aus den nordafrikanischen Wüsten zeichnen das Psychogramm eines schwärmerisch überhitzten Gemüts – und einer großartigen, unbändig-verrückten Frau. Russische Emigrantentochter, aufgewachsen im chaotischen PatchworkHaushalt am Genfer See, Vagabundin der Seele, tritt sie mit 20 zum Islam über, lernt Arabisch, reitet in Männerkleidern durch Algerien und Marokko, schreibt wie besessen und liebt mit glühender Leidenschaft. Wird als Spionin verdächtigt, überlebt ein Attentat, ergibt sich dem Kiffrausch und stirbt 1904 mit nur 27 Jahren, als ihre Lehmhütte nach einem tropischen Gewitter im Schlamm versinkt. Manchmal rieseln ihre Sätze hastig wie Treibsand, manchmal verirrt sie sich im Gestrüpp der Adjektive, scheuert sich wund an den Worten und blendet den Leser mit gleißenden Exotismen. Aber ihre Notizen, Kurzgeschichten und Tagebucheinträge sind voller feinnerviger, filmisch präziser Beobachtungen der Fremde. Sie war süchtig nach ihr, auch nach der Erotik der Gefahr. „Mir bleibt die Sonne, und mich lockt der Weg. Das wäre schon fast eine ganze Philosophie,“ schreibt sie. Und: „Ich verachte nicht gern.“ Isabelle Eberhardt hatte keine Angst vor dem, was sie nicht verstand. Sie war so frei, die Grenzen ihres eigenen Horizonts zu übersteigen. Christiane Peitz

Isabelle Eberhardt: Sandmeere 1 & 2. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2004, 448/416 S., 8,90 €/7,50 €.

Mag Tasmanien inzwischen ein beliebtes Reiseziel sein – ein Sehnsuchtsort ist die Insel im Südosten Australiens nicht. Was daran liegt, dass Tasmanien immer den Eindruck macht, als sei es gerade über den Rand der Welt geschlittert, wie die Einheimischen gern behaupten; aber vermutlich genauso daran, dass Tasmanien lange Zeit die größte Strafkolonie des britischen Empire war und hier auch sonst Leute aufkreuzten, die nur eins im Sinn hatten: zu verschwinden.

Eine Art Flüchtling war auch der britische Schriftsteller Nicholas Shakespeare, als er Anfang der nuller Jahre beschloss, sich für einige Zeit auf Tasmanien niederzulassen. Er wollte an einen Ort, den der 1989 gestorbene Schriftsteller und Weltenreisende Bruce Chatwin nie gesehen hatte. Sieben Jahre hatte Shakespeare an seiner grandiosen, 2000 veröffentlichten Chatwin-Biografie gesessen, nun wollte er sich, ausgebrannt wie er war, „von der Biografenkrankheit“ heilen. Doch anstatt sich auszuruhen, entdeckt und verfolgt Shakespeare seine tasmanischen Wurzeln: Sein Urururgroßonkel Anthony Fenn Kemp hatte die Insel Anfang des 19. Jahrhunderts kolonisiert, und ein anderer Verwandter war ein Jahrhundert später hierher geflüchtet, um neu zu beginnen. Shakespeare erzählt die Lebensgeschichten dieser Männer und er erzählt die Geschichte Tasmaniens und tasmanische Geschichten. Etwa die des zwar ausgestorbenen, aber immer wieder von Einheimischen gesichteten Beutelwolfs. Oder die der drei Sträflinge Greenhill, Travers und Pearce, die aus dem Gefängnis ausbrachen, sich in unwegsames Gelände verirrten und dann gegenseitig aufaßen. Dass Shakespeare irgendwann auch auf einen Familienzweig der Chatwins stößt, macht diese Mischung aus Familienroman, Geschichtsbuch und Reisereportage dann so richtig rund. „In Tasmanien“ ist eine Art Chatwin-Austreibung durch radikale Anverwandlung. Gerrit Bartels

Nicholas Shakespeare: In Tasmanien, aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Marebuch, Hamburg 2005, 500 S., 22, 90 €

Evelyn Waugh, der Name steht für die etwas andere Art von Reiseschriftstellerei. Als der britische Snob und Misanthrop 1930 nach Addis Abeba aufbrach, um als Korrespondent der Times und des Daily Express an den Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Haile Selassie teilzunehmen, sollte er genau das vorfinden, was seinen Wünschen für süffisante Betrachtungen über die barbarischen Sitten der Einheimischen und das überkandidelte Kolonialistengehabe der diplomatischen Gäste entsprach.

So ist es eine Lust, Waughs alles andere als politisch korrekte Erinnerungen an einen Trip zu studieren, der nach seinen eigenen Worten vergleichbar ist mit Alice im Wunderland. Doch gerade in der elitären Arroganz seiner Augenzeugenposition gelingen ihm Beobachtungen, die sich nicht nur komisch-unterhaltsam lesen, sondern ein Verständnis unter umgekehrten Vorzeichen für sein Sujet bezeugen. „Glücklichere Menschen beobachten Vögel,“ schreibt Evelyn Waugh, „ich beobachte Menschen. Die sind weniger schön anzusehen, aber vielfältiger.“ So changieren seine mokanten Beschreibungen zwischen dem hilflosen Gebaren der angereisten europäischen Gesandten und den abstrusen Zeremonien der Krönungsfeierlichkeit. Keinen Moment möchte der Leser mit dem Autor tauschen, der doch sein Unglück masochistisch genießt. Fünf Jahre später ist Waugh übrigens nach Addis Abeba zurückgekehrt, diesmal als Kriegsberichterstatter. Zur Begrüßung schüttete ihm die Tochter des britischen Gesandten ein Glas Wein ins Gesicht. Für seine nun erstmals ins Deutsche übersetzte „Expedition eines englischen Gentleman“ hätte es mindestens Champagner sein müssen. Nicola Kuhn

Evelyn Waugh: Befremdliche Völker, seltsame Sitten. Die andere Bibliothek, Frankfurt / M 2007, 328 S., 27,50 €.

Zum Beispiel eine Nacht unter freiem Himmel im äußersten Osten Anatoliens. Der Fiat Topolino, ohnehin ein erschöpfbarer Gefährte, verschnauft am Rand der Piste, er soll es noch über die iranische Grenze schaffen und später nach Afghanistan. Oben leuchten die Sterne, unten schnürt ein Fuchs mit phosphoreszierenden Augen durchs Gelände. Nebenan ein schweigsamer Freund, mit dem gut Rauchen und Teetrinken ist, und dann schon das Morgengrauen, in dem die Wachteln und Rebhühner erwachen. Und was geschieht? „Man streckt sich, macht ein paar federleichte Schritte, und das Wort ,Glück' erscheint für das, was einem zustößt, ziemlich dürftig.“ Das sind so Sätze, die man in Nicolas Bouviers Buch über „Die Erfahrung der Welt“ immer wieder findet und die sich manchmal zur großen Daseinsdeutung aufschwingen. Denn „letztlich besteht das eigentliche Gerüst des Daseins weder aus der Familie noch der Karriere, noch aus dem, was andere Leute von einem denken oder sagen werden, sondern aus einigen Augenblicken dieser Art, in denen man durchwallt wird von einem Gefühl, das noch gelassener ist als die Liebe. Das Leben teilt sie uns nur so sparsam zu, wie es der Schwäche unseres Herzens angemessen ist.“ Reisen und Schreiben sind für Bouvier (1929–1998) in diesem Versuch über die Schönheit, dessen Poesie auch eine düstere Seite hat, dicht verknüpft – auch darin, manchmal nicht vom Fleck zu kommen. Ein unerschöpfliches Existenzbuch, das seit seinem ersten Erscheinen 1963 von Jahr zu Jahr frischer und tiefer geworden zu sein scheint. Gregor Dotzauer

Nicolas Bouvier: Die Erfahrung der Welt. A. d. Französischen von Trude Fein und Regula Renschler. Greifbare Ausgabe: Lenos Pocket, Basel 2004. 440 Seiten, 14 €.

Wie viel Welt braucht es, um eine Seele zu füllen? Als Ella Maillart in Indien ankommt, hat sie schon das rote Russland bereist und das wilde Turkestan, ist durch China, Kaschmir und Afghanistan gewandert, zu einer Zeit, als solche Reisen kaum ein Mann auf sich nimmt. Während im fernen Europa der zweite Weltkrieg tobt, durchmisst die Schweizer Abenteurerin allein den indischen Subkontinent, gibt sich den Lehren des Ramana Maharishi hin, auch denen des Krishna Menon – und findet doch immer noch Raum in ihrer Seele, den all der Raum da draußen nicht zu füllen vermag. Bis Ti-Puss in ihr Leben tritt, p’tit pussy, „mit vollem Namen Frau Minou Wildling, geborene Pusch-i-kin“. Eine Hauskatze, die der Schriftstellerin zur Reisebegleiterin wird – und zum Seelenspiegel. Ein ungleiches Paar? Nur scheinbar, lehren Fremd- und Selbstwahrnehmung. Eine einsame Weiße mit einer grauen Katze auf der Schulter, das flößt in seiner doppelten Befremdlichkeit schon wieder Vertrauen ein, stellt Maillart bei ihren Begegnungen mit der indischen Bevölkerung fest. Und ist der gemeinsame Gang zweier Einzelgängerinnen nicht letztlich auch der effektivste Modus philosophischer Fortbewegung? Maillart jedenfalls lernt erst durch Ti-Puss, die spirituellen Lehren ihrer indischen Meister auf die materielle Welt zu übertragen. „Denn eine Katze“, weiß sie am Ende ihrer Reise, „versteht es, die Fülle des gegenwärtigen Moments zu leben.“ Jens Mühling

Ella Maillart: Ti-Puss. Mit einer Katze allein durch Indien. Aus dem Englischen von Ursula von Wiese, Edition Ebersbach, Berlin 2006, 255 Seiten, 18 €.

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