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Ruf nach Freiheit. Der ungarische Außenminister Gyula Horn (r.) und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock durchtrennen am 27. Juni 1989 ein Stück des Eisernen Vorhangs. Ungarn gehört für Kritiker inzwischen zu den "defekten Demokratien" des ehemaligen Ostblocks.

© dpa

Über autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit: Demokratie lässt sich nicht einpflanzen

Zwölf der fünfzehn Nachfolgestaaten der UdSSR werden heute autoritär regiert. Ein historischer Sammelband untersucht dieses Scheitern anhand der Regime der Zwischenkriegszeit.

Von Ralf Dahrendorf stammt die Warnung aus dem Jahr 1997, die Welt befinde sich „an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“. Was aber war dann das zwanzigste? Das Jahrhundert der Demokratie, wie es bei der Gründung des Völkerbunds nach dem Ersten Weltkrieg schien? Oder war es das Jahrhundert des Totalitarismus, wie man unter der Herrschaft des europäischen Faschismus und weltweiten Kommunismus glauben konnte?

Dass es auch schon, zumal in den Jahrzehnten bis zum Zweiten Weltkrieg, ein autoritäres Jahrhundert war, darauf hat bereits 2001 Erwin Oberländers Sammelwerk über Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944 hingewiesen. Das von zwanzig Autoren zusammengetragene Buch ging damals „angesichts des Übergangs vom Staatssozialismus zu demokratischen Verhältnissen im östlichen Europa“ der Frage nach, warum der erste Anlauf zur Demokratie in den meisten Ländern gescheitert war. Doch was im Erscheinungsjahr des Buches als historische Fallstudie erschien, hat inzwischen eine neue aktuelle Bedeutung gewonnen und rechtfertigt längst eine Neuausgabe. Ihre Absicht bringt der Herausgeber mit einem neuen Nachwort auf den Punkt: dass die erhoffte globale Rückkehr zur Demokratie nach dem Ende der Sowjetunion „kaum vorangekommen ist, dass wir uns vielmehr einer Renaissance autoritärer Regime gegenübersehen.“

Die historische Dimension des Diskurses fehlt oftmals

Tatsächlich werden inzwischen nicht nur zwölf der fünfzehn Nachfolgestaaten der UdSSR autoritär regiert, während der „lupenreine Demokrat“ Putin sich seinerseits anschickt, für sein Modell einer „gelenkten Demokratie“ Bündnispartner auch unter westeuropäischen Nationalkonservativen und Nationalisten zu gewinnen. Bei seinem ebenfalls autoritär und nationalkonservativ tendierenden polnischen Nachbarn Kaczynski wird ihm das zwar vorerst nicht gelingen. Aber seit auch in der Türkei – Nachbar sowohl Russlands wie der Europäischen Union – eine Präsidialdiktatur entsteht, sind Dahrendorfs These und Oberländers Revue des totgeglaubten Autoritarismus sogar brandaktuell.

Doch Oberländer klagt zu Recht, die Diskussion darüber finde „nahezu ausschließlich auf dem Feld der Politikwissenschaft statt.“ Das habe „möglicherweise“ zu einer Vernachlässigung der historischen Dimension geführt. Während Politologen noch streiten, ob es sich um „hybride“, „begrenzte“, „delegative“ oder „defekte“ Demokratien handelt, liefern die historischen Analysen des Sammelbands Vergleichsgrundlagen zum Verständnis der Entstehung und Funktion der „Demokratien mit Adjektiven“. Dabei erweist sich, dass nicht einmal das Stichwort „gelenkte Demokratie“ neu ist: Es ist eine Wortschöpfung des estnischen Premiers Eenpalu aus dem Jahr 1938, das er auch als „disziplinierte“ und „organisierte Demokratie“ variierte. Seine und des Präsidenten Päts autoritäre Staatsorganisation war so perfekt, dass die Sowjetunion bei der Annexion der baltischen Staaten „lediglich die autoritären Machthaber durch kommunistisches Personal austauschen“ musste. Auch „Volksdemokratie“ ist schließlich nur eine weitere Variante der „Demokratie mit Adjektiven“.

Sie hassten nichts so sehr wie Pluralismus

Was die „Demokratie imitierenden“ Systeme verbindet, fasst Oberländer in vier Punkten zusammen: Machtkonzentration bei einer Person oder Junta, exklusive Partizipationsmechanismen herrschender Eliten durch kontrollierte Wahlen und organisierte Netzwerke in Massenorganisationen und Klientelstrukturen, informelle Herrschaftsmechanismen statt offener Repression, und eine ausgeprägte Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit, mit der sie ihre Herrschaftsbalance zwischen Tradition und Modernisierung sichern. Ein weiteres Bindemittel in den neu zugeschnittenen Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg war der nachholende oder enttäuschte Nationalismus, der auf homogene Volksgemeinschaft statt Pluralismus baute. Deshalb zählten zu den autoritären Regimen ihrer Zeit sowohl diktatorisch entartete Präsidialregimes, Militärdiktaturen, semifaschistische Ständestaaten und sogar Königsdiktaturen wie in Albanien, Jugoslawien und Rumänien. „Sie hassten nichts so sehr wie den Pluralismus“, charakterisiert Holm Sundhaussen die südosteuropäischen „Demokratien“ jener Jahre, „die zu jedem Kompromiss unfähig waren (es sei denn, zu einem Kompromiss um der Macht willen), die den zentralistischen Staat als Demiurg von Modernisierung wie ein Heiligtum verehrten, die analphabetischen Bauern als bloßes Manipulationsobjekt behandelten und die parlamentarischen Spielregeln mit einer Schlitzohrigkeit umgingen, die als Ausdruck ihrer politischen ,Meisterschaft’ galten.“ Deshalb erlagen sie am Ende den totalitären Diktaturen Hitlers und Stalins.

Kann man aus der Geschichte lernen? Wenn ja, beruft sich der Historiker Oberländer auf den Verfassungsrechtler Karl Loewenstein, dann nur das eine: Man könne nicht eine voll ausgebildete konstitutionelle Demokratie in Staaten verpflanzen, die sich eben erst einer traditionellen Autokratie oder Kolonialherrschaft entledigt haben, aber weder politische Erziehung noch eine von Machtträgern und Machtadressaten „gelebte“ Verfassung besitzen. „Dies gilt“, schließt er sein Nachwort zur Neuausgabe, „nicht nur für die zweieinhalb Jahrzehnte seit dem Ende der UdSSR, sondern auch für die Jahre nach 1918, als die autokratischen Großreiche im östlichen und südöstlichen Europa zerbrachen.“

Erwin Oberländer (Hg.): Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. XI, 708 S., 78 €.

Hannes Schwenger

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