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Letzte Anerkennung im Weißen Haus. Barack Obama verleiht Donald Hall eine National Medal of Arts (2010).

© Reuters/Jason Reed

Literatur vom Alter: Karneval der Niederlagen

Wer berichtet schon wahrheitsgetreu vom vierten Lebensalter? US-Dichter Donald Hall tut es in der "Neuen Rundschau". Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Für den österreichischen Kabarettisten Werner Schneyder stand die Sache fest: „80 ist Pflicht, der Rest ist Kür“, erklärte er zu seinem letzten runden Geburtstag. „Man muss früh mit dem Sterben beginnen, damit man noch was davon hat.“ Die Kür dauerte für ihn dann noch zwei Jahre – bis zum vergangenen März. Schneyder wusste, dass mit dem neunten Lebensjahrzehnt die Luft allmählich so dünn wird wie für Bergsteiger nach Überwindung der 7000-Meter-Grenze. Glaubwürdige Berichte aus dieser Todeszone sind rar. Es gibt inzwischen zwar Stapel von Lebenshilfeliteratur, und auch an pittoresken Darstellungen von munteren Greisen, etwa dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster seines Altersheims steigt und verschwindet, herrscht kein Mangel. Doch Ungeschöntes aus der Innensicht? Selbst Philip Roth schrieb seine bitteren Auseinandersetzungen mit dem Alter, vom „Sterbenden Tier“ bis zum „Exit Ghost“, in Vorwegnahme späterer Zumutungen rund um sein 70. Jahr. Ähnliche Einschränkungen gelten für deutsche Zeugnisse. Sowohl Ingrid Bachérs „Sieh da, das Alter“ als auch Natascha Wodins „Alter, fremdes Land“ gelten dem dritten, nicht dem vierten Lebensabschnitt.

Eine Ausnahme ist da der amerikanische Dichter, Kritiker, Prosa- und Kinderbuchautor Donald Hall. 2014, acht Jahre nachdem er zum Poet Laureate der USA ernannt worden war, veröffentlichte er mit „Essays After Eighty“ einen hinreißenden Band, der es sogar auf die Bestsellerliste der „New York Times“ schaffte. Der Nachfolger „A Carnival of Losses: Notes Nearing Ninety“ erschien im vergangenen Jahr. Die neunzig hat er dann nicht mehr erreicht: Hall starb im Juni mit 89 Jahren. Die „Neue Rundschau“ (S. Fischer, 2019/2, 17 €) erinnert mit einer Auswahl seiner „Notizen auf dem Weg zur neunzig“ in der eleganten Übersetzung von Britta Waldhof nun an Hall – und bringt mit „Der Spion in erster Hand" überdies die letzte Erzählung des schon schwer ALS-kranken Sam Shepard, die im englischen Original posthum als eigenständiges Büchlein erschien.

Seine Frau Jane Kenyon starb an Leukämie

„In deinen Achtzigern“, beobachtet Hall, „isst du nicht viel. Mit bald neunzig achtest du darauf, dass du isst.“ Oder: „In deinen Achtzigern bist du unsichtbar. Mit bald neunzig hoffst du, dass keiner dich sieht. Mit neunzehn warst du einsdreiundachtzig. Mit einundneunzig wirst du einsachtunddreißig sein.“ Seinen Sarkasmus hatte er sich über Jahrzehnte antrainiert. Schon in seinem populärsten Gedicht „My Son, My Executioner“ aus dem Jahr 1955 spiegelte sich ein Sinn für das große Werden und Vergehen. Haltung lehrten ihn aber erst eine langwierige Krebserkrankung im Jahr 1989 und der Leukämietod seiner zweiten Frau, der Dichterin Jane Kenyon 1995. Kenyon wurde zum Gegenstand vieler Gedichte, etwa denen in „Without“ und des Memoir „Best Day The Worst Day“ über das gemeinsame Leben auf der Eagle Pond Farm in Wilmot, New Hampshire.

Donald Hall war 76 Jahre alt, als er dem „Web of Stories“ (www.webofstories.com und auf YouTube) Auskunft über sein Leben, sein Verständnis von Literatur und seine Begegnungen mit Größen wie T. S. Eliot oder Robert Bly gab. Portioniert in 111 Clips, zeigen sie Hall in seiner ganzen selbstironischen Geistesgegenwart – ein Jahrzehnt bevor er mit seinem Auto, das er mehrfach gegen die geschlossene Garagentür gesteuert hatte, auf der Route 4 in New Hampshire endgültig Schiffbruch erlitt und der Rollator sein wichtigstes Fortbewegungsmittel wurde, wie er in den „Notizen“ berichtet.

Das von der Londoner Science Navigation Group betriebene Portal präsentierte anfangs nur Naturwissenschaftler. Inzwischen findet man auch Geisteswissenschaftler und Künstler. Neben Hall erzählen hier auch die polnische Dichterin Julia Hartwig oder der Filmregisseur Andrzej Wajda von ihren Stationen – und Philip Roth. In Teil 36 seines 163-teiligen Rückblicks verrät er, wie es zu dem Roman kam, der die Endlichkeit des Menschen am unmittelbarsten beleuchtet. Nach dem lange zurückliegenden Tod seiner Großeltern und dem der Eltern in den 70ern und 80ern, dachte er, es sei mit dem Sterben für immer vorbei. Dann erwischte es kurz nacheinander mehrere Freunde. „Jedermann“ war geboren.

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