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Der große Wiener Dirigent und Komponist Gustav Mahler, 1860–1911.

© imago/Leemage

"Der letzte Satz" von Robert Seethaler: Legende vom Ozeandirigenten

Warum wollte er unbedingt über Gustav Mahler schreiben? Der Erfolgsschriftsteller Robert Seethaler und sein Roman „Der letzte Satz“.

Im April des Jahres 1911 tritt Gustav Mahler seine letzte Reise an. Im Winter zuvor war er wieder nach Amerika gereist, um eine weitere Saison als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker zu absolvieren, wie immer mit einem gewaltigen Arbeitspensum. Mahler ist der berühmteste Dirigent seiner Zeit, ein feuriger, unerbittlicher Interpret.

Der Empfang in der Neuen Welt war überwältigend gewesen, alle wollten diesen kleinen Mann aus Wien hören, an der Met oder in der Carnegie Hall. Doch 1911 ist die Stimmung merklich abgekühlt, ein Konzert Mahlers nicht mehr per se eine Sensation. Das Orchester meutert gegen seinen Führungsstil, der nur Respekt vor der Musik kennt.

Der Maestro zürnt, stemmt sich mit aller Kraft gegen die drohende Ohnmacht und überfordert dabei einmal mehr seine angeschlagene Konstitution. Er zieht sich erneut eine Angina zu, Fieber schüttelt ihn und lässt sich nicht mehr abschütteln. Auf den angegriffenen Herzklappen setzen sich Streptokokken fest, die Innenwände entzündet sich.

Diese Diagnose ist das Todesurteil, denn das rettende Penicillin existiert noch nicht. Drei Monate dauert das Sterben, es beginnt in New York, setzt sich über den Atlantik zurück nach Europa fort, macht Station in Paris bei führenden, aber hilflosen Bakteriologen und gelangt schließlich nach Wien, wo Mahler einst der gefeierte und gehasste, schließlich nach einer Medienkampagne geschasste Direktor der Hofoper war.

In seinem Roman „Der letzte Satz“ (Hanser, Berlin 2020. 128 S., 19 €.) löst Robert Seethaler aus dem langsamen Tod eines großen Mannes eine kleine Sequenz heraus. Es sind wenige Stunden auf See, an Bord des Schnelldampfers „Amerika“, in denen Mahler an die Luft getragen wird, in einen eigens für ihn abgetrennten Bereich.

Der Berliner Schriftsteller Robert Seethaler, 54

© Urban Zintel/Verlag

Im Tweedanzug, in Decken gewickelt, erlebt er an Deck den Sonnenaufgang über dem Ozean, lässt sich von einem Schiffsjungen Tee bringen und denkt über sein Leben nach. Es ist still, nur das Stampfen der Maschinen ist zu hören, und durch Mahler zieht im Schatten des Fiebers ein Frösteln. Er erinnert sich daran, wie er drei Jahre zuvor in seinem Komponierhäuschen in Toblach nach einem heftigen Migräneanfall plötzlich den spöttischen Ruf eines Vogels bemerkte, den die Einheimischen den Abholer nennen, „heiser und abgerissen – aber eben genau richtig“.

Es ist einer der raren Hinweise darauf, dass sich Seethaler einen Musiker zum Protagonisten erkoren hat, dessen Credo lautete: „Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“. Der andere Hinweis steckt im Romantitel, er spielt auf die Neunte Symphonie an, deren finaler Satz nach dem Willen ihres Komponisten „ersterbend“ gespielt werden soll.

Die Neunte wurde das letzte Werk, das Mahler vollenden konnte. In Seethalers Buch will sich ihr Schöpfer nicht mehr zu Musik äußern, die doch sein Lebensinhalt war, selbst wenn die Frage von dem Schiffsjungen kommt, für den der Sterbende, obwohl im Umgang mit Menschen oft schroff, so etwas wie Zartgefühl empfindet. Dennoch kanzelt er ihn ab: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald sich Musik beschreiben lässt, ist sie schlecht.“

Seethalers Sprache wirkt plötzlich erschreckend banal

Das ist schon eine rechte Plattitüde, die der Leser hinnehmen muss. Ohne sie kommt der Autor aber nicht aus, denn Robert Seethaler will sich partout nicht einlassen auf die klingende Welt des von ihm auserkorenen Protagonisten.

Stattdessen muss sein Mahler, festgeklemmt auf dem Schiffsdeck, vor einem grauen Horizont mühsam noch einmal all die Wegmarken abklappern, die jeder kennt, der auch nur irgendetwas von seiner Biografie weiß; den frühen Tod der erstgeborenen Tochter Maria, die Affäre seiner Frau Alma mit Walter Gropius (der hier nur „Baumeister“ genannt wird), seinen Spaziergang mit Sigmund Freud.

Robert Seethaler lässt seinen berühmten Moribunden sehr viel reportieren und dabei ein bisschen seufzen. Warum, fragt man sich, wollte er eigentlich unbedingt über Mahler schreiben?

In „Der letzte Satz“ spürt man nur die Mühe dieser Entscheidung. Denn obwohl Seethaler versucht, seine konsequent verknappte Sprache anzuwenden, die bei aller Leichtigkeit immer auf etwas Größeres zu zielen scheint – hier wirkt sie plötzlich erschreckend banal.

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Der Seilbahnarbeiter Andreas Egger aus dem Seethaler-Roman „Ein ganzes Leben“ kommt zu tieferen Einblicken in sein einfaches, hartes Dasein, als es Mahler vergönnt ist; auch die Toten des Paulstädter Friedhofs, denen Seethaler in seinem Roman „Das Feld“ eine Stimme schenkt, erstehen plastischer auf als eine Persönlichkeit, deren Jahrhundertgröße hier ohne viel Gegenwehr zusammenschnurrt auf ein beim Lesen immer schmaler werdendes Bändchen.

Das größte Rätsel von „Der letzte Satz“ ist nicht der Tod, sondern warum ein Autor, der bedacht und auch erfolgreich einen eigenen Stil geprägt hat, ohne erkennbare Not sang- und klanglos in einem seichten Ozean der Kraftlosigkeit untergeht.

Hat Seethaler eigentlich gewusst, dass bei Mahlers letzter Reise auch Ferruccio Busoni an Bord war, der ihn bewunderte und Zettelchen mit kontrapunktischen Knobeleien schicken ließ? Auch der junge Stefan Zweig war Passagier auf der „Amerika“, sein pathetischer Bericht über die Ankunft in Cherbourg trägt schon kurz vor dem Tod in Wien am 18. Mai 1911 jene verklärenden Züge, die Mahler zu einem Heroen erheben.

Doch Robert Seethaler interessiert sich in „Der letzte Satz“ nicht für die Zeitströme, die Mahler, klein an Gestalt, groß an geistiger Willenskraft, unerbittlich umtosen, kurz bevor der Sturm des Weltkriegs das alte Europa hinwegfegt. Er entkleidet den Sterbenden, der sich mit letzter Kraft bis an die Reling vorarbeitet, vorzeitig seiner Individualität. Schließlich sackt er als ein Jedermann an Deck zusammen. Was bleibt? Viel ist es nicht.

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