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Die Journalistin und Schriftstellerin Laura Cwiertnia. Sie wurde 1987 in Bremen geboren.

© Marlena Waldhausen/Verlag Klett Cotta

Laura Cwiertnias Roman „Auf der Straße heißen wir anders": Armenische Reise

Die Herkunft erkunden: Laura Cwiertnias bemerkenswerte Vater-Tochter-Geschichte „Auf der Straße heißen wir anders“.

Sie sammelt die Geschichten ihres Vaters als wären es Briefmarken, die eigenen Erlebnisse landen abends im „Erinnerungsregal“. Als Kind ging Karlotta Bluhme gerne früh ins Bett, um ihre Erinnerungen zu sortieren. Nun will sie mehr. „Fährst du mit mir nach Armenien, Papa?“, fragt sie ihren Vater nach dem Tod der Großmutter.

In ihrer Kommode haben sie einen goldenen Armreif gefunden, mit einem rätselhaften Zettel, wer ihn bekommen soll: „Lilit Kuyumcyan“ in „Yerevan, Armenien.“

Wie viele Familiengeschichten wird auch diese von der 1987 in Bremen geborenen „Zeit“-Journalistin Laura Cwiertnia durch ein Fundstück in Gang gebracht. Karlotta, in Bremen-Nord aufgewachsen, sieht mit ihren roten Haaren ziemlich „deutsch“ aus. Inzwischen lebt sie längst in einer anderen Stadt und promoviert in Soziologie.

Wenn sie als Kind mit ihrem Vater Bus gefahren ist, konnte es vorkommen, dass sie gefragt wurde, ob sie den Mann neben sich kenne. Avi, ihr Vater, ist Armenier und stammt aus Istanbul. Er hat nie viel über seine Herkunft gesprochen. Er lebt lieber in der Gegenwart und hat keine Lust auf die alten Geschichten.

Und dann lässt er sich doch von ihr überreden, dorthin zu fahren, wo er noch niemals war. Dieser Trip nach Armenien ist das Herzstück von Cwiertnias Romandebüt mit dem Titel „Auf der Straße heißen wir anders“. (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022. 239 S., 22 €.)

Gebrochenes Verhältnis zur Türkei

Eine Vater-Tochter-Geschichte, die es in sich hat. Denn der Vater ist ein ziemlich cooler und sympathischer Typ, während die Tochter eher etwas zwänglich unterwegs ist. Im Erzählgefüge des Romans hat Karla, wie sie sich lieber nennt, eine Sonderstellung.

Sie ist die Ich-Erzählerin des Löwenanteils. Die anderen Familienmitglieder der insgesamt vier Generationen bekommen eigene Kapitel, die gleichfalls mit Namen überschrieben sind, aber in der dritten Person erzählt werden. Das wirkt aufrichtig, aber auch ein klein wenig unbeholfen. Cwiertnia hat wie ihre Ich-Erzählerin einen armenischen Vater und eine deutsche Mutter.

Anja heißt die Mutter im Roman und kommt nur am Rande vor. Die Eltern haben sich früh getrennt. Karla lebte mit der Mutter in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung und übernachtete jedes zweite Wochenende beim Vater. Für die Freunde ihrer Cousine Nisa, Tochter der Schwester ihrer Mutter, die mit einem türkischstämmigen Istanbuler verheiratet ist, war sie immer nur die „deutsche Cousine“.

Dabei hätte sie in Bremen-Nord gut ein bisschen Street Credibility gebrauchen können. Dem Alltagsrassismus war sie immerhin etwas weniger ausgesetzt. Wenn die Schülerinnen und Schüler nach den Ferien erzählen, dass sie „zuhause“ waren, in der Türkei oder in Italien, Albanien oder Polen, kommt sich Karla mit ihrem eigentlich glücklichen „Schwimmbadsommer“ langweilig vor.

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Den Sehnsuchtsort in der Ferne, der bei Bedarf als eigentliche „Heimat“ hervorgezaubert werden kann, hat sie nie gehabt. Dass ihr Vater als Armenier ein gebrochenes Verhältnis zur Türkei hat, begreift sie erst als Erwachsene.

Drei Jahre vor der Armenienreise ist sie einmal alleine nach Istanbul gereist. Stück für Stück versuchte sie, wenigstens einen Teil der väterlichen Geschichte zusammenzusetzen. Avi ist der Sohn eines Schusters aus Beyoglu, der sich, nachdem sein Geschäft boykottiert wurde, als Schuhputzer durchschlug. Avis Mutter Maryam, mit deren Tod der Roman beginnt, sind drei Kapitel gewidmet. Mit zwei Kindern verließ sie ihren Mann, nachdem er ihr bei einer Fehlgeburt nicht beigestanden hatte.

Sie ging Anfang der 1960er Jahre als sogenannte Gastarbeiterin in die Bundesrepublik. Die Kinder blieben bei den Großeltern. Die Härte der Fabrikarbeit, zunächst in Frankfurt, dann in Bochum, Kiel und schließlich in Bremen, die Erschöpfung am Abend, das beengte Leben in Mehrbettzimmern, das Ausgeliefertsein an die Vermittlungsagentur, die den Pass einzog, all das beschreibt Laura Cwiertnia eindrücklich. So wie auch die Nacht des Pogroms vom 6. auf den 7. September 1955 in Istanbul, das sich gegen die christliche griechische Minderheit, aber auch gegen Armenier richtete.

Die Erzählstruktur ist kompliziert

Anders als Fatma Aydemirs Roman „Dschinns“, der den plötzlichen Tod des Vaters in Istanbul zum Anlass nimmt, eine deutsch-türkische Familiengeschichte tatsächlich aus den verschiedenen Perspektiven seiner Mitglieder zu erzählen, leuchtet die Erzählstruktur des Romans bei Cwiertnia nicht wirklich ein.

Vielleicht hat sie etwas Ähnliches versucht wie Inger-Maria Mahlke in ihrem Teneriffa-Roman, der die Hauptfiguren in unterschiedlichen Lebensaltern einfängt und rückwärts durch das Jahrhundert führt.

Doch eigentlich wäre der Roman stärker, wenn er weniger wollte. Denn in der Beziehung zwischen Vater und Tochter ist alles da.

Wenn die beiden in Yerewan landen und Avi, der in Deutschland Taxi fährt, sofort einen Fahrer auftreibt, mit dem er in Kürze so vertraut ist, als würde er ihn schon ewig kennen, dann ist das gleichermaßen anschaulich wie charakteristisch. Mit den Plänen seiner Tochter, den Armreif an die richtige Person zu übergeben, will er nichts zu tun haben. Und doch lässt er sich schließlich in die Recherche hineinziehen und findet gleichsam nebenbei Leute, die man fragen kann.

Der Titel bezieht sich auf armenische Eigennamen

Am Sevansee entsteht ein Gefühl der Weite. Avis Begeisterung, wenn der Ararat sich im Morgennebel zeigt, versetzt Cwiertnias Prosa in Schwingung. Während die Tochter alles in ein Notizbuch einträgt und die „Völkermord-Thematik“ im Museum aufarbeiten will, hat der Vater bald in jeder Kneipe Freunde. Manchmal aber holt ihn die Melancholie ein.

So wie in den vier Jahren, die er als Internatsschüler in Jerusalem in einem Kloster verbrachte, der einzigen Möglichkeit für den begabten Jungen aus armen Verhältnissen eine angemessene Ausbildung zu bekommen. Als er eines Tages offenbarte, dass er nicht Priester werden wollte, war seine Zeit dort beendet.

„Auf der Straße heißen wir anders“ – der Titel bezieht sich auf die armenischen Eigennamen, die Karlas Vorfahren in Istanbul lieber verschwiegen –, ist trotz aller Einwände ein durchaus bemerkenswertes Romandebüt. Es fügt sich ein in den Reigen der Romane, in denen sich deutsche Schriftstellerinnen mit ihrer Herkunft auseinandersetzen.

Katerina Poladjans Armenien-Roman, „Hier sind Löwen“, in dem eine alte Familien-Bibel zum roten Faden der bis zum Genozid 1915 zurückreichenden Handlung wird, ist literarisch anspruchsvoller. Ronya Othmanns Debütroman „Die Sommer“ über ihre kurdisch-êzîdische Familie im Nordirak poetischer. Aber auch die Zunge der Bremerin lockert sich mit der Zeit, wenn sie die Geschichte der armenischen Minderheit erzählt, die schließlich zu Karlas Urgroßmutter Armine und am Ende gar zu Lilit führt.

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