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Sommer in Burgund. Jean Baptiste Camille Corots Gemälde „Weizenfeld im Morvan“ (Champ de blé dans le Morvan, Ausschnitt) aus dem Jahr 1842 lässt Mirko Bonnés Helden davon träumen, in diesem Landschaftsbild zu verschwinden.

© mauritius images/Peter Horree

„Lichter als der Tag“ von Mirko Bonné: Lasst alle Sicherheiten fahren

Mirko Bonnés neuer Roman „Lichter als der Tag“ ist eine bewegende Geschichte über den Aufbruch in neue Lebens- und Liebeswege. Ein Buch, das man so leicht nicht mehr aus der Hand legt.

Wenn der unglückliche Held am Ende dieses Romans sein altes Leben in Trümmer gelegt hat, rettet ihn die Kunst. Nach der Entführung seiner eigenen Tochter und Monaten der Flucht streift Raimund Merz die Fesseln seiner bürgerlichen Existenz endgültig ab und sucht die Erlösung in einem Bild des impressionistischen Malers Camille Corot. Er reist zum Schauplatz dieses Bildes, in eine mittelfranzösische Landschaft, dem Granitmassiv Morvan, und träumt dort zwischen Pappeln und Robinien von der Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben. „Doch solange er sich bewegte", heißt es auf den letzten Seiten, „kam es ihm vor, als ginge er in Camille Corots Bild hinein.“

Diese ästhetische Katharsis setzt Mirko Bonné an das überraschend glückliche Ende eines Liebesromans, der sehr subtil und mit vielen überraschenden Wendungen den Weg seiner vier Protagonisten in die Trostlosigkeit unerfüllter Liebeswünsche zeigt. In sehr freier Variation von Goethes „Wahlverwandtschaften“ führt Mirko Bonné vor, wie sich aus dem Lebensübermut von vier Jugendlichen in Hamburg die „einzementierte Schieflage“ zweier Ehepaare entwickelt, die den jeweils falschen Partner geheiratet haben.

Sehnsucht nach Ausbruch

Moritz und Raimund, zwei Künstlernaturen ohne festen Lebensplan, durchleben mit Inger, der Tochter eines dänischen Malers und Floriane, der angehenden Ärztin, die Zeit des Erfahrungshungers zwischen Schule und Studium: „Jeder war süchtig nach Hoffnung und war zugleich vor Hoffnung blind.“ Das Freundschafts-Quartett zerbricht, als Moritz und Inger zum Liebespaar werden und Raimund und Floriane als Verlassene zurückbleiben. Das Unglück potenziert sich, als die beiden Enttäuschten aus der Liebesnot eine Tugend machen wollen und „zum Trost“ eine Ersatz-Ehe eingehen. Raimund geht mit Floriane, der karrieretüchtigen Kieferchirurgin, nach England. Sie organisieren mit zwei Töchtern ein instabiles Familienglück, das sofort auseinanderbricht, als nach Jahren der Kontaktlosigkeit Raimunds große Jugendliebe Inger wieder auftaucht. Die nicht domestizierten Liebeswünsche aus der Zeit der Jugend brechen in den Alltag des Paares ein, und Raimund wagt als Fünfzigjähriger einen radikalen Neuanfang.

Mirko Bonné erzählt diesen Weg der Liebenden in die Finsternis in kunstvollen Rückblenden, sodass erst allmählich das ganze Lebensdrama des Raimund Merz sichtbar wird. Mit einem gefakten Lebenslauf bringt er es zu einem Job als Redaktionsangestellter bei der Hamburger Wochenzeitung „Der Tag“. Seinen Beruf absolviert er so lustlos wie seinen Familienalltag, da er mit fortschreitendem Alter immer mehr vom „Lichtweh“ erfasst wird, der Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem Dunkel seines Lebens.

Gratwanderer. Der preisgekrönte Schriftsteller Mirko Bonné, geboren 1965 am Tegernsee, vermisst in seinem neuen Roman „Lichter als der Tag“ den schmalen Grat zwischen möglicher und unmöglicher Liebe.
Gratwanderer. Der preisgekrönte Schriftsteller Mirko Bonné, geboren 1965 am Tegernsee, vermisst in seinem neuen Roman „Lichter als der Tag“ den schmalen Grat zwischen möglicher und unmöglicher Liebe.

© Heike Bogenberger/Schöffling

Das große Projekt des Raimund Merz, zugleich das utopische Kraftfeld von Bonnés Roman, ist der Ausstieg aus einer zwanghaften Liebesordnung und die sinnliche Erfahrung der Illumination. Auf den ersten Seiten des Romans, unter dem Stahl-und-Glas-Dach des Hamburger Hauptbahnhofs, ist der Augenblick gekommen, das verlorene Glück wiederzufinden, die Sehnsucht nach Licht endlich zu stillen und aufzubrechen in ein neues Leben. Denn nach 15 Jahren kreuzt plötzlich Inger seinen Weg, und fortan lässt Raimund Merz alle Sicherheiten seines so unglücklich verknoteten Lebens hinter sich. Seine geistigen Begleiter auf diesem Weg, der ihn zuerst ins Kinzigtal zu seiner Tochter und dann nach Lyon führt, sind das Bild von Camille Corot und die Verse des Barockdichters Andreas Gryphius, die die Grundmelodie eines heillosen Daseins formulieren: „Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten, / Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.“

Vor 17 Jahren hat Dieter Wellershoff, der grandiose Verhängnisforscher der deutschen Gegenwartsliteratur, schon einmal mit „Der Liebeswunsch“ einen erschütternden Roman über die Folgen fehlgeleiteten Begehrens geschrieben, eine „Wahlverwandtschaften“-Paraphrase mit tödlichem Ausgang. Wellershoffs Figuren taumelten damals in den Abgrund, ihr „Liebeswunsch“ zerschellte an den Dämonien der bürgerlichen Ordnung.

Die Mutigen dürfen auf die Erfüllung ihrer Wünsche hoffen

Mirko Bonné entwirft mit „Lichter als der Tag“ ein utopisches Gegenbild: Seine verzweifelten Liebenden lassen das Regelwerk von Beruf und Ehealltag hinter sich und suspendieren alle Rituale einer geregelten Zweisamkeit – und dürfen am Ende auf die Erfüllung ihrer Wünsche hoffen. Es wäre keine Überraschung, wenn Mirko Bonné mit diesem Roman, der mit den Vorgängerromanen „Wie wir verschwinden“ (2009) und „Nie mehr Nacht“ (2013) ein Triptychon bildet, auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landen würde.

Zwar scheut der Autor bei seinen Schilderungen von Merz’ Illuminationsfantasien kein Pathos, zwar gestattet er sich recht abenteuerliche Handlungskonstruktionen und geht auch das Risiko ein, die Paradoxien der Liebe mit einer Poetik der Landschaftsmalerei in Verbindung zu bringen. Diese Entschlossenheit zur ästhetischen Überhöhung wird auf Widerspruch stoßen. Sicher ist aber auch: Wer dieses bewegende Buch über die Ambivalenzen unserer Liebeswünsche und die Abgründe des Begehrens einmal zu lesen begonnen hat, wird es nicht wieder aus der Hand legen können, denn es vermisst den schmalen Grat zwischen der möglichen und der unmöglichen Liebe, eine unfallträchtige Gratwanderung bis zum heutigen Tag.

Mirko Bonné: Lichter als der Tag. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2017. 336 Seiten, 22 €.

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