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Aus dem Nachlass von Roberto Bolaño: Labyrinth der Außenseiter

Lesen und Reisen sind wichtiger als alles andere auf der Welt: Roberto Bolaños Roman „Die Nöte des wahren Polizisten“.

Über zwanzig Jahre soll Roberto Bolaño an diesem Roman geschrieben haben, und, so äußerte er es 1995 in einem Brief, nicht weniger als „achthunderttausend Seiten“ hatte er dafür eingeplant, „ein aberwitziges Vexierspiel, das niemand durchschaut“. Andere Projekte wie zum Beispiel der tatsächlich weit über tausend Seiten zählende Roman „2666“ müssen ihm dann aber in die Quere gekommen sein. Der frühe Tod des chilenischen, in Mexiko geborenen und nach dem Pinochet-Putsch an der Costa Brava in Spanien lebenden Schriftstellers tat ein Übriges: Als Bolaño 2003 beim Warten auf eine Lebertransplantation starb, harrte der Roman „Die Nöte des wahren Polizisten“ noch seiner endgültigen Fassung. Wie so viele Bücher dieses Autors ist er nun aus dem Nachlass veröffentlicht worden, wobei die Überarbeitung durch Bolaño, so schreibt es seine Witwe Carolina Lopez in einem Nachwort, „weit vorangeschritten“ gewesen sei.

Allerdings hat man bei der Lektüre des knapp 300 Seiten umfassenden Romans den nicht weiter störenden Eindruck, es tatsächlich mit einer unfertigen Arbeit zu tun zu haben. „Die Nöte des wahren Polizisten“ liest sich zum einen wie ein Supplement zu anderen Bolaño-Romanen, vor allem „2666“; zum anderen bekommt der Roman zum Ende mehr und mehr etwas von einem Motor im Leerlauf: Man kann ihn genauso gut abstellen wie ewig weiter vor sich hintuckern lassen.

Den bei seinen Büchern gewohnt rätselhaften Titel hat Bolaño immerhin genauer erklärt. Der Polizist sei der Leser, „der vergeblich versucht, Ordnung in diesen vermaledeiten Roman zu bringen“. Eine formale Ordnung hat der Roman aber: Fünf Kapitel gibt es, von „Der Fall der Berliner Mauer“ als erstem bis zu „Sonoras Mörder“. Alles Weitere trägt dann durchaus Züge eines kleinen Verwirrspiels – wenngleich Bolaño-Fans da gewappnet sind, die Unfertigkeit Programm ist und „Die Nöte des wahren Polizisten“ nicht zuletzt eine Wiederbegegnung mit einigen Helden und einem Schauplatz aus „2666“ ist. Zwei der Hauptfiguren sind der verwitwete, in Barcelona lehrende Universitätsprofessor Oscár Amalfitano und dessen 17 Jahre alte Tochter Rosa. Amalfitano hat ein homosexuelles Verhältnis zu dem jungen Dichter Padilla und wird deshalb entlassen, weshalb er und Rosa nach Santa Teresa, Mexiko siedeln, der Stadt mit den über 300 mysteriösen Frauenmorden, im realen Leben Ciudad Juárez geheißen.

Hier darf Amalfitano wieder lehren, hier empfängt er zahlreiche Briefe von Padilla, der an einem Roman mit dem Titel „Der Gott der Homosexuellen“ schreibt und heroinsüchtig ist. Und hier schieben sich schon bald Auftritte von Polizisten und die ersten Frauenmorde ins Bild, ohne dass sich ein wirklich schlüssiger Zusammenhang zu Amalfitanos und Rosas Dasein ergeben würde. Aber den erwartet auch niemand, nicht nach Sätzen wie: „Amalfitano wurde 1942 in Temuco, Chile geboren, an dem Tag, als die Nazis ihre Kaukasus-Offensive starteten.“ Das war halt so, solche zufälligen Koinzidenzen stellt Bolaño gern her, da hält er es mit Amalfitano, der überzeugt davon ist, „dass ein Buch ein Labyrinth und eine Wüste war. Dass Lesen und Reisen wichtiger war als alles andere auf der Welt, vielleicht ein und dasselbe, und man damit nie aufhören durfte.“ Hereinspaziert also in dieses neue Bolaño-Labyrinth, in dem man nie auf der sicheren Seite ist, man sich immer auf schwankendem Boden befindet. Bei allen Abschweifungen ist dieses Labyrinth aber gar nicht so verschlungen, sondern von viel Ordnung durchdrungen.

Es beginnt mit einer aus „Die wilden Detektive“ bekannten Einteilung in Romane als heterosexuell und Lyrik als homosexuell sowie der Auflistung literarischer Strömungen von „Schwulen und Schwuchteln“, wer schwuler Dichter war (Whitman), wer Dichterschwuchtel (Neruda) etc. Das setzt sich fort mit Kurzporträts seltsamer, obskurer, unbekannter Dichter und Dichtergruppierungen, und das mündet schließlich in das vierte Kapitel, das dem verschollenen, ebenfalls aus „2666“ bekannten Dichter J. M. G. Arcimboldi gewidmet ist: Dieses besteht nur aus der Nacherzählung von Arcimboldis Romanen und der Skizzierung seiner Freunde, Feinde und Neigungen.

Ja, Bolaño war eindeutig auch ein Ordnungsfanatiker, der stets versucht hat, ein System in die vielen von ihm entweder imaginierten oder real nacherzählten Dichterbiografien zu bringen. Im Gegensatz dazu stehen das Kaputte in den Büchern dieses Autors, das literarische Außenseitertum, die Drogen, die wüste Sexualität. Die Nöte seiner Protagonisten hatte Bolaño stets gut unter Kontrolle, und nicht zuletzt deshalb ist es ein großes Vergnügen, seine labyrinthischen, nur vermeintlich ziellosen Romane zu lesen. Aufhören kann man damit nie.

Roberto Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag, München 2013. 270 S., 21,90 €.

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