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Genie, Charme, Schönheit. Virginia Woolf.

© imago/Leemage

Briefe von Virginia Woolf: Küss mich, ich bin ein Felsen

Zum 125. Geburtstag im Januar 2007 erscheinen die Briefe der Virginia Woolf zum ersten Mal auf Deutsch.

Von Gregor Dotzauer

Wer weiß, wie viele Leben nebeneinander sie lebte. Virginia Woolf war eine Meisterin der Verwandlung: eine Imaginationsvirtuosin, die gedankenflüchtig von Paralleluniversum zu Paralleluniversum schwebte und sich dabei oft nicht einmal selbst zu fassen bekam. Als Erzählerin war sie ein Genie des polyphonen Bewusstseinsromans und als Tagebuchschreiberin eine heldenhafte Dämonenbeschwörerin.

Als Briefautorin aber, deren Korrespondenz man jetzt zum ersten Mal in größerem Umfang auf Deutsch lesen kann, war sie ein Wunder an Charme und Geschwindigkeit. "Kannst Du auch so schnell schreiben", fragt sie ihre Freundin, die Komponistin Ethel Smyth: "Nur noch 6 Zoll übrig, die zu füllen sind, und der ganze Brief randvoll mit überzeugenden politischen Argumenten, Liebe, Göttlichkeit, Literaturkritik und einigen dazwischengeworfenen häuslichen Kommentaren, hat genau 10 Minuten meines wertvollen Tages vergeudet."

Das ist das Tempo, das ist der Grundton, der im Verlauf der 50 Jahre, die auf gut tausend Seiten dokumentiert sind, je nach Befindlichkeit schwankt. Doch wie geschwätzig, wie tratschsüchtig, wie alltäglich sorgenvoll ihre Briefe dahineilen - es gibt keine Seite, auf der sich nicht ein ungewöhnlich leuchtendes Bild, eine geschliffene Bosheit oder eine originelle Charakterisierung finden würden.

Jeder Brief war ein Stück gestohlener Zeit. Im Bemühen, noch die letzten Sekundenreste zu nutzen, fing sie ihre Gedanken noch im Flug ab und erreichte eine Lebendigkeit, die sie in ihren Romanen schwer erkämpfen musste. Briefeschreiben war für sie in einem Maß Urlaub von der literarischen Fron, wie man es nur noch von einem anderen Wortschwerstarbeiter kennt: von Gustave Flaubert. Literarisches wird folglich nur am Rande verhandelt, dann aber umso schärfer, wenn sie etwa beschreibt, wie sie sich durch den "Ulysses" von James Joyce quälte, dessen Veröffentlichung sie in der von ihr und ihrem Mann Leonard betriebenen Hogarth Press erwogen hatte.

Joyce werde zwar unterschätzt, erklärt sie, "aber nie hat ein Buch mich so gelangweilt". Und an anderer Stelle: "Mein Eindruck, nach 200 von 700 Seiten, ist, dass der arme junge Mann sogar im Vergleich mit George Meredith nur den Bodensatz eines Gehirns besitzt."

Zimperlich war sie auch sonst nicht. Sie zog über jeden her, der ihr missfiel, und dass sie nach ihren ersten Büchern schnell zur Spitze der englischen Vorkriegsgesellschaft zählte, schien ihren Furor manchmal nur noch anzustacheln. Über die Ehefrau eines Dinner-Gastgebers heißt es, sie sei "eine alte Glucke, pfennigfuchserisch, dünn und schmächtig, nur Muskeln und Sehnen; kein Fleisch; kein Humor; aber dann wieder so freundlich, wie man es sich nur wünschen kann - was, wenn Phantasie, Humor, Musik, Menschlichkeit fehlen - nicht sehr weit reicht."

Einen Nachbarn, den Diplomaten Sydney Waterlow, beschreibt sie mit den Worten: "Bei Gott! Was für ein Langweiler dieser Mann ist! Niemand, dem ich je begegnet bin, scheint mir so augenfällig zweitklassig zu sein, und jetzt findet die arme Kreatur sich damit ab und beabsichtigt, in Richmond gleich neben uns zu wohnen und dort Tag und Nacht zu kopulieren und 6 kleine Waterlows zu produzieren. Dieses Haus hat meiner Meinung nach lange nach getrocknetem Samen gestunken. Und es ist in seinem Fall nur eine Art Hammelfett."

[Virginia Woolf: Briefe 1. 1888-1927. 549 Seiten. Briefe 2. 1928-1941. 515 Seiten. Hg. von Klaus Reichert, Nigel Nicolson und Joanne Trautman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, je 39 €.

Virginia Woolf: Das Lesebuch. Ausgewählt von Corinna Fiedler. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006. 503 Seiten, 12 €.

Hermione Lee: Virginia Woolf. Ein Leben. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. Fischer Tb, Frankfurt am Main 2006. 1152 S., 12,90 €.

Renate Wiggershaus: Virginia Woolf. dtv Porträt, München 2006. 181 Seiten, 10 €.

Victoria Glendinning: Leonard Woolf. A Biography. Free Press, New York 2006. 498 Seiten, 30 $.

Sarah M. Hall: Before Leonard. The Early Suitors of Virginia Woolf. Peter Owen, London 2006. 320 Seiten, 22,50 £.]

Zugleich borden Virginia Woolfs Briefe über von einer Empathie und Herzlichkeit, die ihren Grund nicht nur im leisen oder lauten Betteln um Antwort hat, sondern auch vieles über ihre ebenso einnehmende wie stachlige, verschlossene und aufbrausende Persönlichkeit verrät. Zumindest schreibend versuchte sie in der ihr eigenen Mischung aus Gründlichkeit und Sprunghaftigkeit ihrer Empfindungsparadoxien Herr zu werden.

Die beiden Bände, die zu Woolfs 125. Geburtstag am 25. Januar 2007 erschienen sind, dokumentieren dabei nur ein Drittel ihrer gesamten, auf Englisch gedruckt vorliegenden Briefe: von den ersten, kindlich zusammengestoppelten Mitteilungen an den Vater und die früh gestorbene Mutter bis hin zur bitteren Klarsicht ihrer Abschiedsbriefe, bevor sie sich am 28. März 1941 im Flüsschen Ouse in der Grafschaft Sussex 59-jährig ertränkte, um die Stimmen abzustellen, die sie nach Jahren der psychischen Gesundheit wieder hörte.

Man kann die durch Anmerkungen und Überleitungen glänzend erschlossene Edition geradezu als autobiografischen Roman lesen. Er bildet die Ursprünge der diskutierwütigen Bloomsbury-Gruppe, der sie sich selbst nur ungern zurechnete, so gewissenhaft ab wie Virginias Ringen um sexuelle Identität und ihr Sympathisieren mit den Ideen der Suffragetten und Sozialisten. Er zeugt von der fast symbiotischen Beziehung zu ihrer Schwester Vanessa Bell, der berühmten Liebe zu Vita Sackville-West und der Beziehung zu Ethel Smyth, die wohl eher in sie verliebt war. Und er führt in das Beziehungsgestrüpp zwischen homo- und heterosexuellen Männern, die in jungen Jahren gleichermaßen um sie warben, bevor sie sich für den heterosexuellen Leonard entschied.

"Ich will alles", schreibt sie ihm, "Liebe, Kinder, Abenteuer, Intimität, Arbeit. Und so wechsele ich von dem Gefühl, halb in Dich verliebt zu sein und dem Wunsch, Dich immer bei mir haben zu wollen, zum Extrem der Wildheit und Distanziertheit. Manchmal denke ich, wenn ich Dich heiraten würde, könnte ich alles haben - und dann - ist es die sexuelle Seite, die zwischen uns tritt? Wie ich Dir neulich so brutal sagte, fühle ich mich körperlich nicht zu Dir hingezogen. Es gibt Augenblicke - als Du mich neulich geküsst hast, war einer davon -, in denen ich nicht mehr empfinde als ein Felsen."

In solchen Passagen überlagern sich eine Idee von geschlechtsunabhängiger, reiner Liebe mit Virginias Sehnsucht nach Familie und der Gewissheit, Begehren nur für Frauen zu spüren. Von Anfang an allerdings war sie an einem männlichen Gegenpol interessiert - und zwar in Gestalt eines Mannes. Nur das "Getue um Ehe und Kopulation" war ihr zuwider. Der schwule Schriftsteller Lytton Strachey, der ihr den Hof machte, blieb für sie eine "Freundin" - unter den Männern freilich die wichtigste. Die Ehe mit dem jüdischen Sozialisten Leonard schließlich war keineswegs das Ergebnis gesellschaftlichen Drucks. Sie war bei allen Spannungen bis zum Ende eine Liebesehe. Auch der handfeste Flirt mit dem heterosexuellen Clive Bell, den Virginias Schwester Vanessa geheiratet hatte, bevor diese sich wiederum mit dem schwulen Maler Duncan Grant einließ und mit ihm ein drittes Kind bekam, lässt sich nicht einfach als geschwisterliche Rivalität deuten. Bloomsbury-Wirrnisse.

Zwischen Virginia Woolfs Briefen und ihren ebenso flüchtig geschriebenen Tagebüchern gibt es durchaus Überschneidungen. Was aber in ihren Journalen zumeist in Moll erklingt, intoniert sie in den Briefen eher in Dur. Das musikalische Flimmern, Atmen und Blühen ihrer besten Romane "Mrs. Dalloway" oder "Zum Leuchtturm" mit ihren inneren Monologen und sinnestrunkenen Details ist tatsächlich etwas anderes, entspringt jedoch dem gleichen Bestreben: Es will noch die unscheinbarste Assoziation festhalten. Die Briefe beweisen, dass es sich dabei um kein modernistisches Programm, sondern um Woolfs ureigenes Naturell handelt. Wie ihre gleichnamigen Essays sind ihre Romane geschrieben für den "gewöhnlichen Leser". Kann es eine bessere Einladung geben, sich mit Virginia Woolf zu beschäftigen?

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