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Hereinspaziert! Die Installation „Untiteld (Open Wide)“ von Piotr Uklanski

© Courtesy der Künstler und Gagosian Gallery/Mateusz Sadowski

Kunstmuseum Wolfsburg: Der Mund in der Kunst

Das Kunstmuseum Wolfsburg muss seine Schau „In aller Munde“ nach der Eröffnung sofort wieder schließen – ein Geisterrundgang.

Es muss jetzt schnell gehen. Den Wandtext bitte nicht lesen, drängelt die Frau am Eingang, lieber gleich in die warme Grotte, empfiehlt der Museumsdirektor. Corona wegen: Damit sich die Gäste an diesem Abend nicht zu nahe kommen, werden sie zügig in die zentrale Halle der Ausstellung geschleust.

Die „Grotte“ entpuppt sich als hoher, steriler Raum mit blutrotem Teppich. Und baumelte an einer der Wände nicht dieses riesengroße von Piotr Uklanski installierte Gaumenzäpfchen, man würde wohl kaum auf die Idee kommen, dass die neue Schau im Kunstmuseum Wolfsburg in einer monumentalen Mundhöhle startet.

Aber was heißt starten? Das Publikum, das in gehörigem Abstand und mit Masken vermummt Platz nimmt, während Direktor Andreas Beitin, die Kuratorin Uta Ruhkamp und schließlich der emeritierte Berliner Professor Hartmut Böhme zur Eröffnung von „In aller Munde. Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman“ sprechen, gehören auf absehbare Zeit zu den wenigen, die diese Ausstellung überhaupt sehen können.

Zu allen Zeiten faszinierte das Orale die Künstler

„Sehr traurig“ findet Beitin diese Tatsache, und man versteht ihn sofort. „In aller Munde“ ist nicht bloß die größte und wichtigste Schau seit seinem Wechsel vom Aachener Ludwig Forum nach Wolfsburg vor anderthalb Jahren. Sie erweist sich auch als ungeheuer ambitioniertes Projekt. Wer den Mund als Gegenstand der Kunst entdeckt, der wird vom Thema geradezu verschlungen: kein Jahrhundert, keine Epoche ohne Bezüge zum Oralen.

Vergangenen Sommer war noch von gut 150 Exponaten die Rede, mit denen sich von Albrecht Dürer bis zu den zart gemalten Körperteilen von Vivian Greven der Mund mitsamt seiner dunklen, geheimnisvollen Höhle erkunden ließe. Nun sind es gut 250 Beiträge. Darunter dentale Instrumente aus der Vergangenheit (von denen einige dem Berliner Performancekünstler John Bock gehören), Assemblagen wie „Achat de Vieux Dentiers“ von Daniel Spoerri, der zum Testen ausrangierter Gebisse einlädt, die man nicht mal in die Nähe des eigenen Mundes kommen lassen möchte. Zahlreiche aktuelle Werke von Berliner Künstlern wie Isa Melsheimer, Bernhard Martin, Barbara Steppe, Birgit Dieker oder Lisa Junghanß sind dabei. Und historische Höllenbilder wie das des Genremalers Egbert van Heemskerck d. J., der um 1700 Martin Luther ins Fegefeuer schickt – durch ein weit geöffnetes Maul des Teufels.

Der Mund als Pforte disparater Erfahrungen: schmerzlicher, sinnlicher, politischer, schrecklicher, komischer – und viraler. Wenn es noch eines Beweises für die Aktualität der Wolfsburger Ausstellung braucht, dann liefert ihn die Vernissage selbst mit ihren Masken zum Schutz der oralen Zone als „idealem Substrat für Überlebens- und Verbreitungsmöglichkeiten des Coronavirus“, wie Andreas Beitin betont.

Noch nie gab es eine Ausstellung zu dem Thema

Dabei hatte vor zweieinhalb Jahren, als die Idee zur Ausstellung entstand, niemand die Gefährlichkeit einer Pandemie vor Augen. Vielmehr ging es um das 2013 erschienene Buch „Das Orale“ über die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Medizin, das Böhme gemeinsam mit der Zahnärztin Beate Slominski herausgegeben hat. Ein interdisziplinäres Projekt mit Ausflügen in Literatur wie Kunst. Und ein Standardwerk, weil sich niemand zuvor so intensiv mit dem menschlichen Zentralorgan beschäftigt hat.

„In aller Munde“ ist ein ähnliches Experiment, denn auch in deutschen Museen gab es bislang keine Ausstellung dazu. Dabei wimmelt es in der Kunstgeschichte nur so vor Stillenden, Kauenden, Küssenden oder auch Liebenden, die das Objekt ihrer Begierde mit Zunge und Zähnen erkunden.

 „Christus in der Vorhölle" von Hieronymos Bosch (Nachfolger)
„Christus in der Vorhölle" von Hieronymos Bosch (Nachfolger)

© bpk/ Hamburger Kunsthalle/Elke Walford Pieter

Zu viele vielleicht für eine einzige Schau, die in zwölf Kapiteln wenigstens etwas Licht durch den Mund in dessen dunklen, geheimnisvollen Schlund schicken will. Wie bodenlos diese Absicht ist – und wie fein verästelt das Orale in all seinen Aspekten – ahnt man, ohne überhaupt schon viel gesehen zu haben.

Noch harren die Gäste auf ihren Stühlen aus, lauschen Böhme, der von der „Visualisierung der Mundhöhle und ihren Sensationen“ spricht, staunen über die goldgetränkte Monsterzunge auf dem Bild von Marilyn Minter hinter dem Redner. Und hören aus einem der angrenzenden Räume immer wieder verdächtige Geräusche.

Der anschließende Rundgang bestätigt, was man sich noch sitzend ausgemalt hat: Da kotzt sich einer die Seele aus dem Leib. Auf Video, medial distanziert, aber doch laut genug, um Ekel zu erzeugen. „Alles muss raus“ (2000) heißt das Video von Christian Keinstar, und es ist keinesfalls das einzige Kunstwerk mit Würgepotenzial.

"Schreien & Speien" heißt ein Kapitel

Auch Cindy Sherman kehrt das Innere nach außen, wenn sie auf ihren Fotografien Völlerei oder tropfende Körperöffnungen visualisiert, und die lange unterschätze amerikanischen Malerin Lee Lozano lässt auf einer Zeichnung von 1962 einen Penis aus einem geöffneten Mund wachsen, indem zusätzlich noch ein Po steckt – als Zeichen oraler Gewalt, die sich auf viele Arten äußern kann.

„Schreien & Speien“ heißt dieses Kapitel in der überbordenden Vielfalt des Angebots. Hier grimassiert einer der berühmten Köpfe von Franz Xaver Messerschmidt aus dem 18. Jahrhundert, dort lässt Urs Fischer eine Zunge aus Silikon hervorschnellen, sobald der Bewegungsmelder ein neugieriges Gesicht vor dem Loch in der Wand ausmacht. Andy Warhol verewigte 1984 die Märtyrerin Apollonia als Schutzheilige der Zahnkranken auf goldenem Grund, und den Grund dafür kann man sich lebhaft ausmalen.

Der mit „Zahnschmerz & -kommerz“ überschriebene Teil der Ausstellung zeigt Zahnziehungen auf Bildern von Francesco Granacci (1530) bis zum Post-Impressionisten Edouard Vuillard. Aber hier hängen auch Fotografien von Ane Tonga, deren Serie „Grills“ dokumentiert, dass Gold als Zahnschmuck verstanden und kreativ eingesetzt werden kann. Die Botschaft kommt an: Nirgendwo liegen Lust und Leid so dicht zusammen wie in der Mundhöhle, von der Anselmo Fox gleich zwei zeigt, wenn der Künstler die innig miteinander verbundenen Münder für seine Plastik „Kuss extrahiert“ (2000) ausgießt.

Es ist eine bombastische Schau geworden, die nach zwei Tagen zum erneuten Lockdown am Montag wieder schließt und hoffentlich ab Dezember allen offensteht. Introvertiertes, an die eigene Existenz rührendes wechselt mit Extrovertiertem. Auf manches hätte das Team verzichten können, Exkurse ins Ethnologische mögen wichtig sein, erweisen sich aber als kursorisch. Ein bisschen wirkt es, als sei die Ausstellung selbst dem Verlangen erlegen und habe sich einverleibt, was zum Thema zu finden war. Ganz verdaut hat sie es nicht.

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