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Kritik: Trost sollen mir die Löwen spenden

Himmel und Erde, Tod und Auferstehung: Sibylle Lewitscharoff widmet dem großen Münsteraner Philosophen Hans Blumenberg eine romanhafte Fantasie, klärt theologische Fragen und nimmt nebenbei das intellektuelle Klima der achtziger Jahre aufs Korn

Von Gregor Dotzauer

Metaphern stinken nicht. Sie sind womöglich alt, träge und ausgeleiert, vielleicht sogar anrüchig. Doch selbst wenn sie quicklebendig sind, dünsten sie nicht jene „verwegene“ und „wie obenhin verschwebende geruchliche Schärfe“ aus, die der Löwe verbreitet, den Sibylle Lewitscharoff in einer Nacht des Jahres 1982 auf dem Bucharateppich des Philosophen Hans Blumenberg erscheinen lässt. Metaphern sind schließlich nicht die Sache selbst. Sie stehen für etwas, das sich offenbar nicht unverstellt erkennen und keinesfalls beim buchstäblichen Schopfe packen lässt. Der Problemlöwe im Arbeitszimmer des Metapherngelehrten zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass er nicht die rechte allegorische Distanz einhält. In seiner ganzen Gezaustheit besitzt er einen unleugbaren Wirklichkeitscharakter – mit dem Schönheitsfehler, dass kein Student zu sehen vermag, wie der Löwe Blumenberg bis in den Hörsaal folgt und ihm nicht mehr von der Seite weicht.

Aber was erwartet der Leser eines Romans? „Blumenberg“ ist zweifellos ein Stück Literatur, das den Status der Fiktion beansprucht, darin indes doppelt und dreifach verspiegelt ist. Einerseits zurrt Lewitscharoff den irdischen Hans Blumenberg, der am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren wurde und am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster starb, mit den Eckdaten seines Lebens als zeitgeschichtliche Figur fest. Sie streift Lebensunordnung und frühes Leid des katholisch getauften Halbjuden, dessen drei Tanten mütterlicherseits in Theresienstadt umkamen und der noch 1945 im Arbeitslager Zerbst interniert wurde, bevor er auf Betreiben des Fabrikanten Heinrich Dräger freigelassen wurde und bis Kriegsende in dessen Familie Unterschlupf fand.

Andererseits bringt sie ihn in einer Legende zum Schweben, bei der sich realer Kern und künstlerische Ausgestaltung ihrerseits überlagern. Mit Antonello da Messinas Gemälde „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ aus dem Jahr 1474 beschreibt sie die neben derjenigen von Albrecht Dürer bekannteste Darstellung des Kirchenvaters. Hieronymus verkörperte für Blumenberg das Ideal eines Lebens und Studierens im Verborgenen, dem er auch als zusehends einsiedlerischer Professor nachstrebte. Antonello machte ihn überdies mit einem jener Löwen bekannt, die ihn literarisch, philosophisch und ikonografisch als souveräne, in sich ruhende Wesen beschäftigten: Rechts, im Halbschatten, sieht man das zahme Raubtier, das den Heiligen der Überlieferung zufolge zeitlebens begleitete, nachdem dieser ihm in der Wüste einen Dorn aus der Pfote gezogen hatte.

Sibylle Lewitscharoff entführt den Leser also in ein Problemlöwengelände, das Blumenberg selbst in seinen nachgelassenen Denkbildern „Löwen“ (Suhrkamp 2001) beackerte, ohne dass er, der das metaphorologische Denken stets gegen die reine Logik des Begriffs verteidigte, zu belastbaren Thesen gekommen wäre. Unantastbar war für ihn nur die Überzeugung, es müsse „auch ohne naturschützerische Gebärde gesagt werden, dass eine Welt ohne Löwen trostlos wäre“. Das betraf Löwen in natura und Löwen in figura – falls er das überhaupt unterscheiden wollte.

Mit dem Genre des schicksalssatten Künstlerromans hat „Blumenberg“ schon deshalb wenig zu tun, weil Lewitscharoffs Held eher um ein Werk als um eine Biografie ringt: ein Umstand, der ein wertvolles Psychogramm hätte ergeben können, das sich mit den Opfern und Sublimierungen der Person beschäftigt. Aber auch dies lag nicht im Sinn der Autorin.

Vielmehr handelt es sich um eine verehrungsvolle Fantasie, die Blumenberg mit Zitaten und Motiven seines Denkens umspielt: dem Missverhältnis von „Lebenszeit und Weltzeit“, das er in seinem gleichnamigen Buch untersuchte; der Ambivalenz einer Existenz in der Höhle; der Trostbedürftigkeit des Menschen in einer endlichen Welt, die er in dem Band „Die Sorge geht über den Fluss“ mit der berühmten Reflexion „Drei Grad über dem Nichts“ bedachte: „Erst das Prinzip der Entropie hat allen Illusionen über die Frontseite der Evolution, über die Zukunft der Gattung Mensch und ihrer Werke, ein Ende gesetzt. Wie dauerhaft auch immer das sein könnte, was der Einzelne im Überleben seiner Nachkommen für die Gattung bedeutet hätte, irgendwann würden die Bedingungen des Lebens auf der Erde und sogar im ganzen Universum verschwinden und alles in Leblosigkeit – also auch Gedächtnislosigkeit – erstarren.“

So, wie der grandiose Stilist Blumenberg die Literatur und das Fabulieren umarmte, auf deren spezifischer Wahrheit er im Interesse umfassender menschlicher Selbsterkenntnis bestand, umarmt Lewitscharoff mit ihrem Sprachwitz die Philosophie. Gemeinsam ist beiden eine Passion für theologische Fragen. Blumenberg, in der mittelalterlichen Scholastik firm wie kaum ein Lehrbüttel des Apostolischen Stuhls, war ein nachmetaphysischer Skeptiker von Graden: bibelfest, doch weniger als glaubensschwach, geradezu transzendenztaub, wenn ihn nicht Bachs Matthäuspassion oder die im Roman genannten Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli und Glenn Gould daran erinnert hätten, dass gelegentlich aus unendlicher Ferne noch ein Lied herüberklingt. Er suchte, in Odo Marquards Formel, „Entlastung vom Absoluten“.

Die pietistisch geprägte Schwäbin Sibylle Lewitscharoff, die der deutschen Literatur nach religionsscheuen Jahren einen herausfordernd ironischen Umgang mit Tod und Auferstehung („Consummatus“) und Engelseinflüsterungen („Apostoloff“) geschenkt hat, wirkt mehr und mehr wie eine Begierdekatholikin, die sich nach dem Gegenteil streckt. Auch in „Blumenberg“ geht es wieder einmal um die letzten Dinge.

In den Kapiteln über Blumenberg und den Löwen ist Lewitscharoff auf der Höhe ihres erzählerischen Temperaments und der Roman bei sich und seinem Helden, der mit Thomas Manns Joseph-Roman im Gepäck an den Ort der Handlung reist und entdeckt, dass ihn die Wirklichkeit überfordert: „Nicht nur einmal hatte ihn der Gedanke überfallen, dass es ein Fehler gewesen war, nach Ägypten zu fahren, in diese graurötliche Ödnis, die sich bis zum Horizont erstreckte. Letztlich war er doch ein Nesthocker, der sich lieber die Welt in seine Klause holte und in leuchtenden Gedankenbildern vergegenwärtigte, als sich dem Treiben auszusetzen und sich ratlos in ihm zu verlieren.“

Beim Stubenhockerischen lässt es Lewitscharoff aber nicht bewenden. Um die Löwen-Passagen gruppiert sie Geschichten von vier imaginären Blumenbergschülern und -schülerinnen – alles Schicksale mit tödlichem Ausgang. Man begegnet der Selbstmörderin Isa, die ihrer verzehrenden Liebe für den Philosophen nicht mehr Herr wird, dem philosophischen Karrierewunder Gerhard Optatus Baur und dessen abruptem Exitus, dem Verfall des Schönlings Hansi und dem in drei Kapiteln ausführlich gewürdigten Brasilienreisenden Richard, der am Amazonas vergeblich Heidegger zu verstehen sucht und Opfer eines Hinterhalts wird.

Lewitscharoff hat mit aller Macht Bewegung in das tableau vivant zu bringen versucht. Das ist hochamüsant, wo sie das intellektuelle Klima einer Zeit beleuchtet, zu der in Frankfurt der von Blumenberg beneidete Jürgen Habermas Hof hielt, an der Freien Universität Berlin Jacob Taubes vor versammeltem Seminar Studenten in die rhetorische Enge trieb, während die arme Blumenbergianerin Isa darauf sinnt, bei Jacques Lacan in Paris ihren Münsteraner Meister loszuwerden. Es ist virtuos, wie sie ihre Erzählung mit Bezügen zu Albert Cohens Roman „Die Schöne des Herrn“ und Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ unterfüttert, Blumenbergs klassische Vorlieben mit Bruce Springsteen und Patti Smith kontrastiert und eine Klosterfrau namens Käthe Meliss erfindet, die als einzige außer Blumenberg den Löwen sieht. Es klappert aber auch, wo sie auf den Brasilienseiten ins Fach eines plotorientierten realistischen Erzählens wechselt, das mit dem Niveau ihrer intellektuellen Capricen und der sprachspielerischen Energie, mit der sie altertümliche Wörter liebevoll bis sarkastisch einspeichelt, nicht Schritt halten kann.

Dreimal lässt sie eine Erzählerinstanz vom Schnürboden herab, als würde sie ihren Abschweifungen selbst misstrauen. „So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen.“

Das ist Flucht in eine Selbstbezüglichkeit, die doch nicht an die Distanzierungsmöglichkeiten wahrer Ironie heranreicht. Doch Lewitscharoff will auf etwas noch viel Unwahrscheinlicheres hinaus: das Weiterleben nach dem Tod. Blumenberg hätte da mindestens seine Zweifel, wenn nicht einen großen Unwillen gehabt. Sibylle Lewitscharoff hat ihm nun gleich ein zweifaches Nachleben beschert. Von einem Löwen, dem Symbol der Auferstehung begleitet, hätte er sich diesen Himmel wahrscheinlich sogar gefallen lassen.

Sibylle

Lewitscharoff:

Blumenberg.

Roman.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2011.

215 Seiten, 21,90 €.

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