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Annalena Baerbock im Wahlkampf.

© dpa

Kolumne "Spiegelstrich": Themen sind wichtiger als Trends

Wenn es nur noch um Umfragen geht, verkommt Wahlkampf zum Scheindrama. Zum Glück wird in Deutschland stärker inhaltlich gestritten als in den USA.

Vor mir liegen die Umschläge, hellblau und rosa, und da liegt der überlange, raffiniert gefaltete graue Zettel mit den 22 Parteien, und ich fühle mich angemessen feierlich. Lese alles konzentriert, erfreue mich an der deutschen Freude am Kompositum: „Kreiswahlleitung“, „Stimmzettelumschlag“; ich kreuze einmal an, kreuze erneut an, stecke das Graue ins Blaue und das Blaue ins Rosafarbene; fertig ist der Liebesbrief an unsere Staatsform. Feiern wir die Demokratie, schützen wir sie!

Zweierlei fällt mir zwei Wochen vor dem Wahltag auf, erstens: Der deutsche Wahlkampf ähnelt dem amerikanischen, der wiederum dem Profisport ähnelt. In den USA wird die Wahlsaison endlos gestreckt, und durch permanente Umfragen, Zwischenstände, Vorwahlen und Statistiken entsteht permanente Unterhaltung, ein Dauergeschäft der Trendwenden und Scheindramen: all die Abstürze und Aufstiege so herrlich menschlich. Sender und Parteien verfestigen das System, da es ihr Geschäft ist: Die USA reden eineinhalb Jahre lang über Politik, ohne über Politik zu reden, stets oberflächlich, selten komplex. „Horse race journalism“ wird die Berichterstattung von Medienwissenschaftlern genannt: Welches Pferdchen führt, welches fällt zurück, Ende der Analyse.

Unklar bleibt oft, was abgefragt wurde

Wir können das auch, längst. Denn auch in Deutschland wird nahezu täglich eine neue Umfrage angeführt, und in der Nachrichtensprache wird daraus ein wuchtiges Bild: „Überschattet von schwachen Umfragewerten, begann der Parteitag …“ So entstehen Trends. Selten nur erfährt das Publikum, was genau wann genau wie genau abgefragt wurde. Ist diese Fokussierung auf Umfragen sinnvoll? Präzise? Wahrhaftig? Ich finde sie in Deutschland immerhin weniger destruktiv als in den USA, da sie durch Personalisierung und Zuspitzung Interesse an Politik weckt – und die tiefen Analysen, die ernsthafte Debatte gibt es ja auch. Immer noch.

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Auch das erste Fernseh-Triell, jenes von RTL und ntv, war lehrreich, die Nachfragen pointiert, fundiert. Ich fand Laschet punktuell kompetent, Scholz auch, und fundiert, in sozial- und klimapolitischen Fragen, wirkte in jener Sendung Baerbock auf mich. Der Vergleich der drei Positionen, der drei Richtungen, wäre hinterher die Aufgabe des Journalismus gewesen, doch nach dem Triell wurde aus Politik jenes Pferderennen: Nun sei die wichtigste Frage zu klären, sagte der Moderator, wer hat gewonnen? 2500 Menschen wurden befragt: 36:30:25 stand es dann, für Scholz gegen Baerbock gegen Laschet. Diese Verengung wird den Zeiten nicht gerecht, aber das Land hat sein Narrativ, hat Klarheit, hatte einen Sieger.

Selbstbewusst im offenen Hemd

Zweitens: Vor einigen Tagen hielt Olaf Scholz eine Rede im Leipziger Clara-Zetkin-Park, im offenen weißen Hemd, selbstbewusst, 2000 Menschen waren da. Hinterher diskutierten wir noch ein wenig weiter, an einem Klapptisch in einer leeren Turnhalle vor Dutzenden von Gymnastikbällen.

Wer Olaf Scholz und der übrigen SPD in diesen Tagen lauscht, hört eine Geschichte von Zusammenhalt und strategischer Stringenz, von langfristiger Planung mit nachhaltigem Effekt. Die SPD von 2021 hat sogar Humor: „Liebe ist rot“, plakatiert sie; „vulgärökonomisch betrachtet“, das ist eine der Formulierungen, die Scholz vergnügt in Gespräche streut.

In dieser, ihrer eigenen Version hat die SPD vor vier Jahren, während des scheiternden Martin-Schulz-Wahlkampfes, begriffen, wie eine Kampagne eigentlich zu führen sei, und so macht sie‘s jetzt; in jenem Moment, in dem die Wählerinnen und Wähler über Baerbocks und Laschets diverse Fehler staunten, sei die SPD strahlend bereit gewesen.

Richten sich die Umfragen nach dieser Erzählung? Oder ist es umgekehrt?

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Zuvor war er unter anderem Chefredakteur des „Spiegel“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Klaus Brinkbäumer

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