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Blick in den Kammermusiksaal der Philharmonie

© Heribert Schindler, Berliner Philharmoniker

Kolumne „Der Klassiker“ (Folge 54): Die Hölle sind immer die anderen

In der klassischen Musik geht nichts über das Live-Erlebnis? Nun ja, beim Berliner Klavierabend von Jan Lisiecki am vergangenen Wochenende konnte man schon ins Grübeln kommen.

Eine Kolumne von Frederik Hanssen

Was war da nur am letzten Samstag los beim Klavierabend des fantastischen Jan Lisiecki im Kammermusiksaal der Philharmonie? An der Abendkasse kam ich sofort dran, um meine Tickets abzuholen (denn das Konzert war nahezu ausverkauft), doch was sich mir dann bot, war ein realsozialistischer Anblick: Schlangen, so weit das Auge reicht, wie weiland in der DDR vor dem Konsum, wenn es gerüchteweise Bananen geben sollte.

Ewiges Anstehen an der Garderobe, dann ewiges Anstehen an der Theke der Gastronomie – um schließlich zu erfahren, dass alle Tische für die Pause schon ausgebucht sind. Müßige Mitarbeiter stehen dagegen vor den Türen des Saals herum. Denn sie verkaufen ja keine Programmhefte mehr, die gibt es nur – mit ewigem Anstehen – an einer zentralen Stelle.

Es wird gehustet und fotografiert

Pünktlich um 20 Uhr betritt der kanadische Virtuose das Podium – hinter der Bühne war man über das Dienstleistungschaos im Foyer wohl nicht informiert. Was dazu führt, dass es einen Nacheinlass geben muss. Kaum dass Jan Lisiecki das erste kurze Stück gespielt hat, treten zwei Dutzend Menschen in den dunklen Saal, viele sichtbar desorientiert. Da hätten die müßigen Mitarbeiter draußen bei den Türen den Nachzüglern gerne beratend zur Seite stehen dürfen, um die Sitzplatzfindung zu erleichtern.

Die Konzentration jedenfalls ist massiv gestört, auch beim Solisten – und dann beginnt zu allem Übel auch noch die Katarrhsis: ein ohrenbetäubendes Husten und Prusten, polyfon aus allen Ecken des Saales, mal erfolglos unterdrückt, mal hemmungslos rausplatzend. Während Jan Lisiecki, so gut es geht, weitermacht in seinem Programm, tigert ein junger Mann im umlaufenden Mittelgang herum, platziert sich erst links, dann rechts, schließlich mittig, um mit dem Handy den Pianisten aus dem instagramtauglichsten Blickwinkel abzulichten.

Ja, solange ich hören und gehen kann, werde ich weiterhin für das Live-Erlebnis im Konzertsaal werben, für das Dabeisein, das Gemeinschaftserlebnis. Denn nichts geht über den Zauber des Musikmachens, wenn die schwarzen Punkte auf dem Notenpapier für einen unwiederbringlichen Augenblick zu klingendem Leben erwachen. Und doch muss ich zugeben: Am vergangenen Samstag hätte ich lieber allein zu Hause eine Tonkonserve aufgemacht, um Jan Lisieckis Interpretationen ganz ungestört lauschen zu können.

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