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Kolumne Berliner Trüffel (19): Echte Tafel, falscher Ort

Am Lessinghaus im Berliner Nikolaiviertel erinnert eine Bronzetafel an den Dichter und seine Komödienheldin Minna von Barnhelm. Man sollte zweimal hinschauen.

Eine Kolumne von Michael Bienert

Misstraut den Grünanlagen! So warnte der Flaneur Heinz Knobloch, als es noch reichlich Kriegsbrachen in Berlin gab. Was harmlos aussieht, verbirgt oft eine erschütterndes Stück Berlin-Geschichte. Misstraut den Gedenktafeln! Es ist nicht unbedingt Verlass auf das, was sie erzählen. Und manchmal ist die unsichtbare Geschichte einer Gedenktafel spannender als das, worauf sie hinweist.

Am nur drei Fensterachsen schmalen Lessinghaus im Nikolaiviertel hängt unübersehbar eine große Bronzetafel mit einem Porträtrelief Lessings und diesem Text: „Hier stand das Haus in dem / Lessing / 1763 Minna von Barnhelm beendete / Die Stadt Berlin / 1913.“ Das Haus ist eine Rekonstruktion aus DDR-Zeiten, an der Stelle hat Lessing tatsächlich gewohnt. Jedoch von 1752 und 1755, da lag der Siebenjährige Krieg noch in weiter Ferne und an sein Zeitstück um die selbstbewusste Minna und den kriegsversehrten Major Tellheim war überhaupt nicht zu denken.

Lessings Wohnhaus am Alexanderplatz

Die von dem Bildhauer Jacob Pleßner gestaltete Tafel hing ursprünglich woanders, in der Nähe des Alexanderplatzes. Dort eröffnete eine Bürgerinitiative 1905 ein Lessingmuseum in dem Wohnhaus, wo der Dichter als Mieter tatsächlich seinen „Laokoon“ und wohl auch „Minna“ fertigschrieb. Doch stand dieses Haus den Erweiterungswünschen des Warenhauses Tietz am Alexanderplatz im Weg.

Obschon die Stadt Berlin über das Grundstück verfügte, setzte sich das Investoreninteresse durch. Die Stadt gab das Haus 1911 zum Abriss frei. Das Lessingmuseum musste sich eine andere Bleibe suchen und kam im Nicolaihaus in der Brüderstraße 13 unter, wo es blieb, bis die Nazis es eingehen ließen.

Zum Ausgleich für das verschwundene Lessinghaus durfte die Stadt 1913 an der 250 Meter langen Warenhausfassade von Tietz eben jene Gedenktafel anschrauben, die nun im Nikolaiviertel hängt. Entsprechend groß fiel sie aus. Und deswegen wirkt die Tafel an ihrem heutigen Standort so überdimensioniert.

Das Warenhaus Tietz wurde im Krieg schwer zerstört und in DDR-Zeiten durch das „Centrum“-Warenhaus ersetzt. Heute heißt es „Galeria Alexanderplatz“. In der Nähe der Rolltreppen wäre der korrekte Platz für die Tafel, die seit den 1980er-Jahren im Nikolaiviertel auf die falsche Fährte führt.

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