zum Hauptinhalt
309964_0_3cc9d1f3.jpg

© promo

Klassische Musik: Rockt das Repertoire!

Dirigent Kristjan Järvi will die Klassikwelt revolutionieren – und fängt bei sich selbst an.

Im Büro des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin wissen sie bis heute nicht, wer „John Travolta!“ auf das Plakat von Kristjan Järvi gekritzelt hat, das auf ihrem Flur hängt. Ganz falsch liegt der anonyme Kommentator allerdings nicht mit seinem Graffito. Beobachtet man den 37-jährigen Letten nämlich bei der Arbeit, fällt sofort auf, was für ein lässiger Tänzer auf dem Dirigentenpodium er ist. Elastisches Federn in den Knien, sprechende Arme, intensive Beinarbeit: Geschmeidig kommuniziert Kristjan Järvi mit dem ganzen Körper, um seinen interpretatorischen Ansatz klarzumachen.

„Gemeinsames Atmen ist das Allerwichtigste in der Musik“, erklärt er, und seine wasserhellen Augen beginnen sofort zu leuchten. „Wenn ich dirigiere, bin ich nicht der Maestro, sondern einer der Musiker. Denn es geht ja hier nicht um Machtfragen, sondern um Rhythmus und Timing, darum, dass wir gegenseitig aufeinander hören, dass wir alle an dieselbe Sache glauben. Nur so können wir zur organischen Einheit verschmelzen.“ Dieses Credo hat Kristjan Järvi jüngst zu dem Satz verleitet, ein Sinfonieorchester müsse wie eine Rockband sein. Natürlich wurde er sofort gründlich missverstanden. „Ich habe damit nicht gemeint, dass wir Party machen und Drogen nehmen sollen, im Gegenteil: Die richtig guten Bands arbeiten viel härter für ihre Sache als wir klassischen Musiker.“

Und dann erzählt er von diesem TV- Film über „Metallica“, der dokumentiert, wie die Rocker sechs Stunden am Tag proben, mit eiserner Disziplin und absoluter Hingabe. Weil Musik ihr Leben ist.

Für die meisten Orchestermusiker dagegen ist der Job nur „Dienst“: Man kommt hin, verhält sich professionell und geht wieder nach Hause. Es werden immer wieder dieselben Stücke gespielt, in Nuancen differenziert nach dem Geschmack der wechselnden Dirigenten, die gerade vorne stehen. „Das Gefühl, etwas Wichtiges für die Gesellschaft zu schaffen, kann so natürlich nicht aufkommen“, findet Järvi. „Rock-, Pop- und Jazzmusiker dagegen spüren, dass sie mit ihrer Musik die Leute ganz direkt erreichen.“ Weil er sieht, dass der in elitären Ghettos gefangenen Klassik dieses Gefühl abhandengekommen ist, will Kristjan Järvi die Orchesterszene umkrempeln. Sich bei den Leuten mit Crossover-Projekten anzubiedern, hält er dabei für den falschen Weg: „Easy listening bringt die Zuhörer nicht weiter.“ Er will direkt bei den Musikern ansetzen: Die nämlich müssten in seinen Augen erst einmal wieder den Wert ihrer Arbeit einzuschätzen lernen, verstehen, dass sie eine geistige Führungsrolle übernehmen können, wenn sie ihre Kreativität nur richtig kanalisieren. „Wir sollten unseren Blick nicht immer auf das richten, was früher war, sondern auf das, was künftig kommt. Das Beste steht uns schließlich noch bevor!“

Und weil jeder Veränderungsprozess immer zuerst bei einem selber anfangen sollte, hat Kristian Järvi sich entschieden, für die nächsten Jahre erst einmal aus dem üblichen Karriereschema auszubrechen: Nach neun Jahren, in denen er als Chefdirigent zuerst das Orchester der schwedischen NorrlandsOper und danach das Tonkünstler-Orchester Wien wachgeküsst hat, beschloss er, sich nicht neu zu binden – obwohl sich die Orchester derzeit um Typen wie ihn reißen. Stattdessen gründete er 2008 das Baltic Youth Philharmonic, in dem er mit jungen Instrumentalisten aus allen zehn Staaten des Ostseeraums ein kulturelles Erziehungsprogramm für die Profis von morgen austesten will.

„Warum sind die zehn besten Orchester der Welt die zehn besten? Weil hier die Künstler zusammenkommen, die wirklich verstanden haben, worum es geht!“, sagt er. Und fügt sogleich hinzu: „Ich finde, alle Musiker sollten das Recht haben, es zu lernen.“ Darum setzt er seine ganze Power daran, den Nachwuchskräften das unreflektierte Wiederkäuen der Klassikhits abzutrainieren und jene Energien zu bündeln, die entstehen, wenn Menschen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen wie Skandinavien, den baltischen Ländern, Russland, Polen und Deutschland aufeinandertreffen.

Im Übrigen beschränkt er sich darauf, spannende Programme zusammenzustellen und sie mit einigen wenigen Spitzenensembles, die ihn gut kennen, zu realisieren: zum Beispiel mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester, bei dem Järvi 2002 sein Berlin-Debüt gab. Damit steht er in denkbar größtem Kontrast zu seinem Vater, dem legendären Dirigenten Neeme Järvi, der über 400 Werke auf Schallplatte und CD eingespielt hat, aber auch zu seinem älteren Bruder Paavo, der bereits Musikchef der Deutschen Kammerphilharmonie, in Frankfurt sowie Cincinnati ist und gerade einen weiteren Vertrag beim Orchestre de Paris ab 2010 unterschrieben hat. Abgesehen davon, dass Kristjan Järvi Zeit für seine Frau und seine drei Kinder haben will, ließe sich bei einem ähnlichen Arbeitspensum sein radikales Anti-Routine-Programm wohl kaum realisieren: „Ich möchte mit jedem Konzert ein Erdbeben auslösen!“ Spricht’s und springt mit einem travoltaschen Hüftschwung wieder aufs Dirigentenpodium.

Järvi ist am heutigen Sonntag um 20 Uhr mit dem RSB und Waltraud Meier im Konzerthaus zu erleben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false