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Gomorrha

© Prokino

''Gomorrha'': Vorhof zur Hölle

4000 Morde in 30 Jahren - das ist die Bilanz der Camorra, der neapolitanischen Mafia. Mit seinem Buch "Gomorrha" deckte Roberto Saviano ihre Machenschaften auf. Jetzt hat Matteo Garrone den Bestseller verfilmt.

Scampia, ein Vorort von Neapel. In der Mittagshitze wirkt der Wohnblock wie ein verrosteter Tanker. Protzig und verwahrlost, ein Alptraum in Beton. Auf dem Dach halten schwer bewaffnete Wachen nach Polizeistreifen Ausschau, daneben planschen Kinder unbeschwert in einem Pool. Unten, in den Katakomben der Betonburg, wird Umsatz gemacht: Junkies strecken ihre Hände durch ein Gitter zu Dealern empor, kaufen und verschwinden wieder. Hier hat die Camorra das Sagen, hier macht sie gigantische Umsätze mit Heroin und Kokain - bis zu 500.000 Euro pro Tag.

"Gomorrha" führt tief hinein ins Herz der neapolitanischen Mafia. Der Film nach dem Bestseller von Roberto Saviano hat herzlich wenig mit den Mafia-Streifen à la Hollywood gemein. In fünf Episoden zeigt Regisseur Matteo Garrone das Schicksal kleiner Leute, die Teil des kriminellen Kreislaufs sind. Einige wollen ausbrechen, andere schwimmen im Strom mit. So wie Don Ciro, der Buchhalter, der den Familienangehörigen inhaftierter und toter Mafia- Mitglieder ihre kargen Renten bringt. Sein Leben im Windschatten der Gewalt endet jäh, als zwischen zwei verfeindeten Mafia-Clans - den Sezessionisten und den Di Lauro - ein offener Krieg um die Vorherrschaft im Drogenhandel ausbricht. Nur mit Mühe entkommt Ciro einem Massaker der "Scissionisti". Fortan gibt es keine Neutralität mehr im Viertel - entweder man gehört zur einen oder zur anderen Seite.

Mafia erlaubte die Dreharbeiten

Geldgier, Misstrauen, brutale Gewalt: Das Neapel der Mafia ist ein Vorhof zur Hölle. "Gomorrha" bewegt sich in den Niederungen, bleibt dicht an den Menschen dran und bekommt dadurch eine erschreckende Authentizität. Regisseur Garrone drehte in Scampia und Umgebung unter Duldung der Camorra, einige der Hauptrollen besetzte er mit Bewohnern des Viertels. Eine Episode mit Laiendarstellern handelt von den Halbstarken Marco (Marco Macor) und Ciro (Ciro Petrone), die wie ihr großes Vorbild Tony Montana aus dem Hollywood-Film "Scarface" ganz nach oben wollen. Sie klauen Waffen, überfallen Spielhallen und geraten schon bald ins Visier des lokalen Mafia-Bosses - mit fatalen Folgen.

Wer die Geschäfte stört, den bestraft das System - das muss auch der Schneider Pasquale erkennen. Tagsüber entwirft er zu Dumpingpreisen Kleider für die Haute Couture der Mailänder Modehäuser, nachts lässt sich der gefragte Experte zu versteckten Nähereien der Fernost-Mafia kutschieren, wo er mit Nachhilfestunden gutes Geld verdient. Die Camorra bekommt davon Wind - Pasquale entgeht nur knapp einem Mordanschlag, muss fliehen und übernimmt einen Job als Fernfahrer. Allein, auf einer Autobahnraststätte, verfolgt er die Oscar-Verleihung im Fernsehen. Und wird Zeuge, wie Scarlett Johansson mit einem seiner Kleider über den Roten Teppich läuft. Ein Kleid, für das Pasquale seinerzeit 600 Euro bekommen hat.

Ab in die Grube

"Gomorrha" ist voller Bilder, die nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen: die Mafiosi, die zu Italo-Pop in einem Solarium niedergemetzelt werden. Oder die Szene mit dem 13-jährigen Totó, wie er in einer düsteren Höhle auf seine Mafia-Mutprobe wartet: den Schuss aus nächster Nähe in seine kugelsichere Weste. Beeindruckend ist auch die Szene im Kalksteinbruch, wo der smarte Manager Don Franco eine Ladung Giftmüll-Fässer verklappen will: Als die Arbeiter nach einem Unfall streiken, telefoniert Don Franco schnell eine Gruppe halbwüchsiger Roma-Jungen herbei. Mit Kissen unterm Hintern steuern sie die Lastwagen an den Grund der Grube. Business as usual.

4.000 Morde in 30 Jahren gehen auf das Konto der Camorra. Für sein Buch "Gomorrha" hat Roberto Saviano hunderte von Namen und Taten zusammengetragen. Regisseur Matteo Garrone hat nicht den Fehler begangen, diese atemlose Anklageschrift 1:1 verfilmen zu wollen. Mit der Ruhe eines Jägers folgt er den Figuren auf ihrem Weg durch die Schattenwelt der Mafia - das ist tief beeindruckend und unbedingt einen Kinobesuch wert. Man sollte sich den Film auf Italienisch mit Untertiteln anschauen, um in den Genuss der rauen und röchelnden Stimmen der Darsteller zu kommen. Sie sprechen einen neapolitanischen Slang - sogar in Italien läuft "Gomorrha" deshalb mit Untertiteln.

Die fünf Handlungsstränge berühren sich kaum, gerade deshalb wirkt der Film nicht gekünstelt, sondern durch und durch real. So real, dass man sich fragt, wie eine solche Parallelwelt mitten in Europa existieren kann. Die großen Entscheider, die eigentlichen Köpfe der Mafia bleiben im Film - im Gegensatz zum Buch - unsichtbar. Was man sieht, ist ein System, das zwischen kalten Betonburgen, öden Feldern und staubigen Fabrikhallen seine eigenen Kinder frisst. Die gezeigte Gewalt ist erschreckend banal: Die Leichen von Marco und Ciro werden am Ende auf einer Baggerschaufel abtransportiert. Kein Tony Montana weit und breit.

Fakten zu "Gomorrha"
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: Sechs Autoren, unter ihnen Roberto Saviano, Autor des Buches "Gomorrha"
Darsteller: Salvatore Abruzzese (Totò), Gianfelice Imparato (Don Ciro), Toni Servillo (Don Franco), Marco Macor (Marco), Ciro Petrone (Ciro) u.a.
Dauer: 137 Minuten
Kinostart: 11. September 2008

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