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Agnès Varda: Ich und mein Strand

Die fröhliche Sammlerin: zum 80. Geburtstag der französischen Filmemacherin Agnès Varda.

Als 1954 ihr erster Film „La Pointe Courte“ ins Kino kommt, ist die Nouvelle Vague noch nicht erfunden.Und doch gab die junge Regisseurin Agnès Varda mit ihrer halbdokumentarischen Arbeit über das Leben in einem südfranzösischen Fischerdorf den Startschuss für die Erneuerung des französischen Films. Dabei hatte sie eigentlich keine Ahnung. „Ich wusste gar nicht, was Film war, schon allein deshalb, weil ich nie hinging“, sagt sie 1965.

1928 in Brüssel geboren, zieht die Familie ins kleine Fischerdorf Sète an die französische Mittelmeerküste. Nach Studien in Literatur, Sinologie, Philosophie, Kunstgeschichte und dem richtungsweisenden Besuch der Pariser Hochschule für Fotografie arbeitet sie als Fotografin für Theateraufführungen und geht auf Reisen. Fotografin ist sie geblieben, auch nach dem Wechsel zum bewegten Bild.

Mit „Cléo de 5 à 7“ („Mittwoch zwischen 5 und 7“) wird sie 1961 berühmt. Beinahe in Echtzeit erzählt Varda die Geschichte einer jungen Sängerin, die zwei Stunden lang auf das Resultat einer ärztlichen Untersuchung warten muss, das ihr Todesurteil sein könnte. Momentaufnahmen von Paris am Vorabend der Unabhängigkeit Algeriens bilden das Spannungsfeld. Neu ist die verschachtelte Erzählstruktur: Episodenhaft verwebt die Regisseurin Cléos Begegnungen, Gefühle und Gedanken zu einem Charakterbild.

Durch den literarischen Kontext ihrer Arbeiten unterscheidet sich Agnès Varda von den Nouvelle-Vague-Stars Godard, Truffaut und Chabrol. Ihre Erzählweise führt sie zu Alain Resnais, dem Cutter ihres ersten Films, und zum Dokumentaristen Chris Marker. „Cinécriture“ nennt sie das und meint damit, dass Einstellungen, Schnitte, Bewegung und Rhythmus die gleiche Bedeutung wie Wortwahl, Satzbau und Kapitel in der Literatur haben. Knapp 40 Filme drehte sie bislang, längst hat sie sich mit ihrer Produktionsfirma Ciné-Tamaris vom französischen Filmsystem unabhängig gemacht. Ein Wagnis: Einige ihrer Spielfilme floppten, dennoch hat die Regisseurin immer weiter gemacht. 1968 geht sie mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Jacques Demy in die USA und engagiert sich gegen den Vietnamkrieg sowie für die Rechte von Minderheiten und die Frauenbewegung.

Gerne betrachtet sie mit der Kamera die kleinen Leute in ihrer Umgebung und erzählt in „Daguerréotypes“ (1974/75) von den Bewohnern der Pariser Straße, in der sie bis heute lebt. Ihren größten Erfolg feiert Varda 1985 mit „Sans Toi Ni Loi“ („Vogelfrei“): Sandrine Bonnaire schlägt sich als Landstreicherin durch eine südfranzösische Winterlandschaft. Der Film, der in Venedig den Goldenen Löwen gewinnt, löst in Frankreich eine breite Diskussion über Obdachlosigkeit aus.

Filmen bedeutet für Agnès Varda immer auch Selbstreflexion. Fast unmerklich verstreut sie in ihren Bildern Hinweise auf sich selbst: Spiegel, in denen sie, wie in „Jane B. par Agnès V.“ zu sehen ist, Fotografien, Gemälde, Postkarten, Orte, die ihr lieb sind. Jacques Demy, der 1990 verstarb, setzte sie mit „Jacquot de Nantes“ ein filmisches Denkmal.

Vardas Leidenschaft war immer das Sammeln. Mit „Les Glaneurs et la Glaneuse“ dreht sie 2000 gewissermaßen ihr filmisches Vermächtnis und erklärt darin das Sammeln zum menschlichen Urtrieb. Die Müllsammler von Paris, die Bauern auf dem Feld, die Arbeiter in den Obstplantagen oder auch Künstler, die Bilder und Schriftsteller, die Geschichten sammeln – sie alle sind ein Teil von ihr selbst: „Die Menschen, die ich gefilmt habe, lehren uns einiges über unsere Gesellschaft und über uns selbst. Das bestätigt mich in dem Glauben, dass Dokumentationen eine Schule der Bescheidenheit sind.“

Zurzeit arbeitet sie an einer Doku-Fiktion über Orte, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, vor allem Küsten und Ufer. „Les Plages d’Agnès“ führt sie zurück an die Strände von Noirmoutier, wo sie mit Jacqus Demy zeitweilig lebte, an das linke Ufer der Seine in Paris und die Küste von Sète, wo sie 1954 mit „La Pointe Courte“ begann. „Wenn man sich mit Menschen befasst, entdeckt man Landschaften, wenn man sich mit mir befasst, entdeckt man Strände“, sagt sie. Heute wird Agnès Varda 80 Jahre alt.

Johannes Bock

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