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Animationsfilm

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Cannes: Gejagt von heulenden Hunden

Das Festival von Cannes wird politisch – und mit Carlos Sauras „Peppermint Frappé“ von 1968 nostalgisch.

Es hätte ein historischer Moment werden können. Carlos Saura, mittlerweile 76, präsentiert „Peppermint Frappé“ – mit exakt 40 Jahren Verspätung. Eben jener spanische Regisseur, der sich am 18. Mai 1968 höchstpersönlich an den Leinwandvorhang gehängt hatte, um die Vorführung seines in den Wettbewerb eingeladenen Films zu verhindern: Höhe- und Wendepunkt jenes wildesten Jahrgangs von Cannes. Mit Protesten, Manifesten und der schrittweisen Selbstauflösung der Jury hatte er begonnen, und am Morgen nach der legendär abgebrochen Vorstellung des Saura-Films platzte das gesamte Festival. „Die Umstände“, teilten die Veranstalter in dürren Worten mit, „sind nicht geeignet, Vorführungen unter normalen Bedingungen sicherzustellen.“

Zum historischen Momentchen immerhin geriet die nachgetragene Premiere von „Peppermint Frappé“ – schließlich war statt des erkrankten Regisseurs sein Sohn Antonio, ein ebenso fröhlicher wie korpulenter Herr, im Bunuel-Saal des Festivalpalasts erschienen. Und erzählte, sein Vater und dessen blutjunge Lebensgefährtin Geraldine Chaplin seien damals per VW-Bus zunächst nach Paris gefahren. Saura habe dort nichts Geringeres als den „Anfang einer Revolution“ gesehen, Geraldine nur „ein paar Studenten, die Krach machen“. Am meisten litt die Schauspielerin darunter, dass ihr Hund wegen Hotelverbots über Nacht im Auto bleiben musste; aber wenigstens das Tier habe, so seufzte sie später, „den Mai 68 überlebt“.

Ach, Geraldine! Auch der Film, gedreht im franquistischen Spanien und aus heutiger Sicht nicht eben rebellisch, funktioniert vor allem als hemmungslose Huldigung an die Schönheit seiner Protagonistin. Mal blond, mal brünett, durfte die Chaplin-Tochter sogar eine Doppelhauptrolle spielen – an der Seite diskret charmanter Bourgeois, die mit schicken Cabrios und prunkvollen Schlafzimmern punkten. Politisch wirkt dabei aus der Distanz der Jahrzehnte am ehesten der Hauch von „Blow Up“, die Freizügigkeit der Swinging Sixties, die auch in die Franco-Festung Spanien einsickerte und sie wohl nachhaltiger aushöhlte als alle Parolen und Theorien. „Peppermint Frappé“ ermüdet über weite Strecken als galante Komödie, findet aber in ein Finale, das schön garstig ins Chabroleske hinüberspielt.

Die Welt hat heute andere Sorgen als den turbulenten Aufbruch des Abendlands in jenes Mehr an individueller Freiheit, von dem seine Bewohner bis heute profitieren; sie hat andere Brennpunkte und ganz andere Bilder dafür. Zum Beispiel Israel. Seit Jahrzehnten liegt es mit seinen Nachbarn im Streit und verschleißt dabei Generation um Generation. Auch Sieg heißt schließlich Krieg, heißt Trauma, heißt Verdrängung und gebrochene Biografien. Der Dokumentarist Ari Folman hat in dem animierten Dokumentarfilm „Waltz With Bashir“ für seine zeithistorische Vergewisserungsarbeit eine bestechend schlüssige Form gefunden – und stellt, am Beispiel der israelischen Libanon-Invasion 1982 und der Besetzung Beiruts, ohne Scheu Fragen nach individueller und staatlicher Schuld.

Neun Mittvierziger sind es, die sich an ihren 25 Jahre zurückliegenden LibanonEinsatz erinnern; er gipfelte in der Tolerierung der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila – begangen von christlichen Milizen, die damit den Mord an ihrem Führer Bachir Gemayel rächten. Der Regisseur zeigt sie als talking heads in Flash-Animation und schneidet, nachinszenierend, die geschilderten Kriegsszenen dazwischen. Die ästhetische Kohärenz der gezeichneten bewegten Bilder lässt so nicht nur die Gewalt bedrückend gegenwärtig erscheinen, sondern verwandelt die sich zögernd Erinnernden zu fortlebenden Gespenstern, ja Geiseln ihrer eigenen Geschichte.

Ein Mann erzählt seinem Freund, dem Regisseur Ari Folman, einen immer wiederkehrenden Traum: 26 Hunde jagen durch eine nächtliche Stadt und stellen den Träumer jaulend und zähnefletschend. Es sind die Zombies jener Dorfhunde, die er als Soldat töten musste, weil er, Memme der Kompanie, auf Menschen nicht zu schießen wagte. Diese Erzählung öffnet auch den Regisseur wieder für die eigenen Horrorbilder, und er besucht die längst familiär niedergelassenen Kameraden, die ohne jedes Pathos mit ihrem sinnlosen Morden und Überleben zu hadern beginnen. „Waltz With Bashir“ ist aufregend, bewegend, allseitig klug: Keine Jury der Welt kann an einem solchen Film vorbei, am wenigsten wohl die Cannes-Jury unter dem politischen Feuerkopf Sean Penn.

Ganz im Privaten siedelt Nuri Bilge Ceylans Istanbuler Familiendrama „Three Monkeys“, aber die Metapher von den blinden, tauben und stummen Affen weist deutlich auf ein auch gesellschaftliches Versagen: die Unfähigkeit, Krisen um Ehe und Ehre ohne – ritualisierte – Gewalt in den Griff zu bekommen. Als der Politiker Servet (Ercan Kesal) eines Nachts versehentlich jemanden totfährt, nimmt sein Chauffeur Eyüp (Yavuz Bingöl) gegen Geld die Schuld auf sich und geht für neun Monate ins Gefängnis. Servet beginnt ein Verhältnis mit Eyüps Frau Hacer (Hatice Aslan), wovon ihr fast erwachsener Sohn Ismail (Ahmet Sungar) Wind bekommt. Als Eyüp wieder frei ist, nimmt ein archaisches, vielfach verflochtenes Drama um emotionale, sexuelle und auch finanzielle Abhängigkeit seinen Lauf.

Anders als etwa der Franzose Arnaud Desplechin, der anderntags in seinem Wettbewerbsfilm „Un conte de Noel“ auch dramatische Familiennöte nervtötend zerquasseln lässt, sagen die Helden von „Three Monkeys“, allen voran die fantastische Hatice Aslan, einander fast alles durch Blicke, Gesten, Bewegungen. Bis zum Happy End, wie es im derzeitigen Autorenkino wohl kaum jemandem so donnernd wie Nuri Bilge Ceylan gelingt: Schmerz und Schuld sind unermesslich, aber wenigstens gerecht verteilt.

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