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Cannes: Filme zur Krise: Der große Blues

Oliver Stones "Wall Street - Geld schläft nicht" und Manoel de Oliveiras Nachtstück „O Estranho caso de Angélica“ bescheren Cannes die ersten Höhepunkte.

Gier ist gut, das waren noch Zeiten. Jetzt hat Gordon Gekko, der skrupellose Broker mit dem Siegergrinsen von Michael Douglas, der jenen berühmten Slogan 1987 in „Wall Street“ ausgab, einen Bestseller mit dem Titel „Ist Gier gut?“ geschrieben. Wieder steht er vor einem begeisterten Auditorium, bloß dass er diesmal kein Loblied auf den Neoliberalismus singt, sondern erläutert, warum nun die Zeit der Ninjas anbricht, der Generation „no income, no jobs, no assets“, ohne Arbeit und Kapital. Die Kredithaie nennt er Massenvernichtungswaffen. Katharsis eines Profitgeiers, der seine knallharten Sprüche auf das System anwendet, das er einst selbst verkörperte?

Oliver Stones Sequel „Wall Street – Geld schläft nicht“ feierte am Freitag Weltpremiere in Cannes, sorgte für einen ersten Festivalhype und beginnt mit einer kräftigen Portion Selbstironie. Gekko wanderte damals wegen Insidergeschäften in den Knast, jetzt wird er entlassen, erhält seinen Geldscheine-Clip ohne Scheine zurück und sein Mobiltelefon, einen riesigen Knochen. Am Gefängnistor warten die Familien der anderen Ex-Häftlinge, der coole Rapper steigt in eine Stretch-Limo voller Partygäste – nur Gekko holt niemand ab. Gordon Gekko als Familientyp, das wäre ja noch schöner. Solange Hollywood sich bad guys leistet, die von hochkarätigen Stars gespielt werden, kann die Krise nicht allzu groß sein.

Gekko ist wieder da. Über die Croisette gellen „Michael“-Rufe; als Douglas auf der Terrasse des Palais Stéphanie Interviews gibt, versammeln sich Fotografen und Fans zu Hunderten auf der Strandpromenade. Die Hysterie tut gut, schließlich ist das Filmbusiness ein Geschäft mit den großen Gefühlen, und das nach den Unwettern an der Côte d’Azur in letzter Sekunde zurechtgezimmerte Festival hatte mit reichlich Mutmacherparolen begonnen. „The Show must go on“, hieß es tapfer in den Gazetten, weniger wegen der Aschewolke und der von Riesenwellen angeknabberten Strände als wegen der geringeren Zahl angemeldeter Produktionen im Markt.

Wenn es denn stimmt, dass der schöne Schein für das Kino schon der halbe Erfolg ist, dann besteht angesichts der mit Hochglanzanzeigen gespickten täglichen Branchenblätter sowie der Riesenposter an den Häuserfassaden Anlass zur Hoffnung. Da wird für Jean-Claude van Damme, „Karate Kid“ Jackie Chan oder „Spider“ in 3-D geworben, wahr ist aber auch: Nach dem Rekordjahr 2009 für Europas Filmmarkt häufen sich die stornierten Produktionen und pleitebedrohten Firmen. Auffallend viele Anzeigen trommeln für Blockbuster in der Projektphase, die Restaurants sind nicht voll, das Gedrängel am roten Teppich hielt sich zur Eröffnung in Grenzen. Die Zeichen der Finanzkrise sind auch in Cannes unübersehbar.

Also bitte, ein Film zur Krise. Eigentlich ist Politregisseur Oliver Stone ja Stammgast auf dem Politfestival Berlinale, noch nie hatte ein Stone-Film in Cannes Premiere. Jetzt freut sich der amerikanische Filmemacher, mit seinen 63 Jahren beim 63. Filmfest in Cannes debütieren zu dürfen, „Wall Street – Money never sleeps“ läuft hier außer Konkurrenz, deutscher Filmstart ist am 30. September. Und sie ist noch da, die vibrierende Energie, von der das Original 1987 lebte, die von David-Byrne-Songs angereicherte Vitalität New Yorks. Rasante Montage, fliegende Kamera, Dialoge mit Tempo, Schlagzeilen, Meetings, erste Pleiten, Kurse purzeln, es ist das Jahr 2008, ein Börsenveteran springt vor die U-Bahn – Big Apple im Zeitraffer. Auch diese Bilder schlafen nie.

Leider macht Michael Douglas sich rar. 1987 hatte der Börsenhai mit den heruntergezogensten Mundwinkeln der Welt noch Charisma, 20 Jahre später hat er Skrupel – und taucht über weite Strecken gar nicht erst auf. Der Satz „Gordon Gekko is back“ fällt nach zwei Stunden. Bis dahin sieht man dem jungen Öko-Broker Jake Moore (Shia LaBeouf) dabei zu, wie er mit Alternativenergie Geld machen will, ein netter, blitzgescheiter Kerl, der mit Gekkos Tochter Winnie (Carey Mulligan) liiert ist und sich von einem ausgefuchsten Banker (Josh Brolin) einkaufen lässt. Zum Glück, denkt man nach zwei Stunden, ist Michael Douglas noch der Alte, er traut sich was. Denn Gekko zieht nicht nur den künftigen Schwiegersohn eiskalt über den Tisch, sondern nach tränenreichen Versöhnungs-Fakes auch die eigene Tochter. Es geht nicht ums Geld, sondern ums Spiel, sagt er, und er gewinnt haushoch. Um sich in letzter Sekunde zum guten Daddy zu mausern.

Interessant, wie der Linke Oliver Stone schwankt, ob er sein Publikum noch einmal mit der Faszination des Bösen irritieren möchte oder lieber dem Finanzkapital den moralischen Marsch bläst. Er entscheidet sich für Letzteres und opfert seinen Achtziger-Jahre-Helden dafür. Gordon Gekko gibt es nicht mehr. Die Wirklichkeit sieht bekanntlich anders aus. „Wall Street 2“ ist weniger der Film zur Krise als Ausdruck für die Krise des Films.

Money never sleeps – in Italien funktioniert das zurzeit nach ganz besonderen Regeln. Die Satirikerin Sabina Guzzanti hat in Michael-Moore-Manier einen Film darüber gedreht. „Draquila – Italien zittert“ wurde in Cannes in einer Sondervorführung gezeigt: eine Anti-BerlusconiDoku über die Machenschaften von Politik, Zivilschutz und Immobilienbranche beim Wiederaufbau der erdbebenzerstörten Abruzzen-Stadt L'Aquila. Wobei Wiederaufbau das falsche Wort ist. Berlusconi gerierte sich als Retter in der Not, indem er Neubauviertel aus dem Boden stampfen ließ, während die Altstadt verfällt.

Guzzanti, das ahnte man schon vorher, entlarvt die Propagandalügen des Presidente und konfrontiert sie mit Aussagen derer, die in Zeltstädten festgehalten oder an die Küste zwangsumgesiedelt werden. Guzzanti packt viel, zu viel in den Film, den Müllskandal, korrupte Immobiliengeschäfte, Korruption, Mafia, skandalöse Gesetzesänderungen. Jedes Detail ist tatsächlich empörend. Aber auch „Draquila“ krankt an dem Problem, dass staatliche Propaganda zwar linke Gegenpropaganda bedingt, jede Aufklärung aber an Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie sich der Mittel des Pamphlets bedient.

Und der Wettbewerb? Wer den viel kritisierten Wettbewerb der diesjährigen Berlinale in Erinnerung hat, reibt sich in Cannes verwundert die Augen. Das wichtigste Filmfest der Welt, das im Vorjahr mit Kalibern wie Tarantino, Haneke und Lars von Trier aufwartete, eröffnet das Rennen um die Goldene Palme mit zwei belanglosen Geschichten über Männer, die heimkehren – „On Tour“ aus Frankreich von und mit Mathieu Amalric und „Chongqing Blues“ von Wang Xiaoshuai – sowie mit einem soliden koreanischen Klassiker-Remake, dem Erotik- und Eifersuchtsthriller „The Housemaid“.

Da sehen die Alten jünger aus: Manoel de Oliveira, mit 101 Jahren der weltälteste aktive Filmemacher, hat die Finanzkrise auf seine Weise zur Kenntnis genommen. Die Nebenreihe „Un Certain Regard“ eröffnete mit seinem Nachtstück „O Estranho caso de Angélica“, mit Standing Ovations für den lustig mit Mikro, Spickzettel und Stock hantierenden portugiesischen Altmeister und mit einem bewegenden Appell des Festivalchefs Thierry Frémaux an den Iran, den in die Jury eingeladenen, seit Anfang März im Teheraner Gefängnis sitzenden Filmemacher Jafar Panahi endlich freizulassen.

In Oliveiras Kino-Elegie über einen Fotografen, der Dinge festhält, die zu verschwinden drohen, in diesen mit stiller Theatralik ausgeleuchteten Dunkelkammern der Seele unterhalten sich ein paar alte Leute über die Krise, nach zwei Sätzen sind sie von einem gestoppten Brückenprojekt über den Finanzcrash bei der Antimaterie angelangt. Politik, Poesie, Physik, bei Oliveira ist es ein federleichter Schwenk.

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