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Cannes: Fantasien eines sterbenden Auges

Vor der Palmen-Gala: Das Filmfestival Cannes ist in diesem Jahr ein Tummelplatz für nie gesehene Abenteuer.

Ob sie die Augen gestrichen voll vom Kino hat? Jeden Tag seit Festivalbeginn veröffentlicht Jury-Präsidentin Isabelle Huppert einen Schnappschuss in „Libération“, und das schönste, sprechendste Foto ist in der Sonnabendausgabe erschienen. „Ton in Ton“ heißt das Selbstporträt – und richtig, zum grünen Kleid trägt sie ein smaragdbesetztes Armband, den Hintergrund bildet eine gelbgrün geblümte Stofftapete. Doch wo bleibt das gefährliche Schimmern der grünen Augen? Das Gesicht hat die große Schauspielerin hinter ihrem Haarvorhang und zudem der linken Hand verborgen.

Mag sein, dass Huppert wie so viele Festivaliers, Tribut an die vielen kurzen Nächte, auch bei bedecktestem Mittagshimmel ihr Logis im Carlton nie ohne riesige Sonnenbrille verlässt; vielleicht spricht die Vorsitzende Kunstrichterin – hinter der vorgehaltenen Hand – aber auch ein erstes, strenges Urteil. Dessen Tenor, in Abwandlung jener blickfreien Porträtfotoserie, mit der „Die Zeit“ seit Jahren ihre Leserschaft beglückt: „Ich habe einen Albtraum.“ Und der Albtraum heißt Cannes.

Tatsächlich hat das Festival seinen Gästen, allen voran der Jury, diesmal ein enormes Pensum abverlangt. Immer wieder schickte es sie auf Horrortrips durch Gewalt und Extrem-Sex oder beidem in einem, ob in Thriller oder Melodram oder beidem in einem. Immer wieder verführte es, grandios oder banal oder – auch das gibt es – beides in einem, überwach auf Reisen in die Nachtseite des Menschen. Und immer wieder tobten sich die Regisseure zur Bebilderung ihrer Phantasmagorien in nicht enden wollenden Filmen aus. Überlängen von zweieinhalb Stunden waren die – gefühlte – Regel.

Zum Abschlusswochenende nun gibt der Franzose Gaspar Noe, der einst mit „Irreversibel“ in Cannes Skandal machte, den Widerstandskräften des Publikums den Rest – mit seinem nahezu unendlichen Albtraum-Cocktail „Enter the Void“. Wie schon Lars von Trier, der in „Antichrist“ ein um den Tod seines Kindes trauerndes Elternpaar geschlachtet hatte, schickt er seine Zuschauer auf eine narrativ minimalistische, aber ästhetisch umso aufwendigere Tour de Force. Nimmt man mit Quentin Tarantinos „Inglorious Basterds“ den dritten Aufreger hinzu: Schon spannend, wie die Jury bei der Palmen-Vergabe an diesem Sonntagabend mit derlei imposanten, jedes Maß sprengenden Schwergewichten umgeht. Schwül oder kühl, das ist hier die Frage.

„Enter the Void“, durchweg wie in einer einzigen Einstellung und mit subjektiver Kamera gedreht, beginnt als Drogentrip und endet nach 150 Minuten in einer hemmungslosen Sterbe- und Reinkarnations-Ekstase. Kleindealer Oscar (Nathaniel Brown) lebt in Tokio mit seiner Schwester Linda (Paz de la Huerta) in einer total versifften Wohnung zusammen. Eine Abends bricht sie wie immer zu ihrem Job als Stripperin auf, Oscar bringt sich mit illegalen Psychedelo-Pharmazeutika in Stimmung und wird für einen Deal in den Schmuddel-Club „Void“ gerufen. Eine Polizeifalle. Ein Schuss durch die Tür des Stehklos, in dem er sich verbarrikadiert hat. Und Oscar krepiert.

Was nun anhebt, ist die – im Kino so noch nie gesehene – Imagination eines Sterbens. Zwei Stunden lang taumelt die Kamera, fast immer als „Gottes Auge“, über den miserablen Lebensschauplätzen Oscars hin und her, erst in der Rückblende bis zum frühen Tod der Eltern (Autounfall) und dem Liebesversprechen der in Waisenhäuser abgeschobenen Kinder (rituelle Blutsgeschwisterschaft). Dann schaut das Auge des Sterbenden von oben in ständig wechselnde Räume: Lindas Stripclub, miese Dealerwohnungen, Oscars eigene Hütte – und bald ist die irrende Seele bei der Einäscherung des Körpers und der Beisetzung dabei. In einem Tokioter Love Hotel, in dessen Zimmern alle Protagonisten sich sehr körperlich vereinen, sucht Oscar einen Schlupfwinkel zur Wiedergeburt. Und findet ihn, auf äußerst kuriose Weise.

Tokioter „Lost in Fornication“, voyeuristische Inzestfantasie, cineastischer Overkill: „Enter the Void“ ist alles das. Und zugleich die radikale Fantasie eines sterbenden Auges, das, so privilegiert wie ausgesperrt, auf eine Welt aus einander bloß nützlichen Körpern schaut. Für den Blick der fliegenden Kamera sind alle menschlichen Räume frei verfügbar und selbst im Zoom immer restnachtlichtklar – und irgendwann bleibt, jenseits aller Dialogschwächen und schockreduzierender Schockwiederholungen, nur dies: „Enter the Void“ ist eine irre Kinoerfahrung, „Enter the Void“ ist Google Hell.

Doch halt: In ihrer Festival-Form werden die wilden Filme von Cannes nie auf die Alltagsleinwand kommen, nicht nur wegen ihrer kaum kinokompatiblen Überlängen. Gaspar Noe bekennt bereits im Presseheft, das sein „psychedelisches Melodram“ noch nicht fertig sei. Die dänische Produktionsfirma Zentropa lässt nach gehabtem „Antichrist“-Skandal entspannt verlauten, eine „katholischere“ Version des „Antichrist“-Schockers sei mit Lars von Trier längst abgemacht. Und auch Quentin Tarantino kündigt inzwischen an, seine „Inglorious Basterds“ zu überarbeiten – was wohl vor allem heißt: zu kürzen. Bei neuen Filmen mache er schließlich immer Testvorführungen auch außerhalb der USA.

Als bloßes Test-Terrain für halbgare Kinoware aber wäre Cannes unzutreffend beschrieben. Vielmehr bekennt sich auch dieses wichtigste Filmfestival der Welt entschieden zu seiner Funktion als Laboratorium, als Rampe für Abenteurer, deren Visionen das Kino von morgen prägen. Oder, um es mit den Worten des Viennale-Chefs Hans Hurch in der jüngsten Ausgabe der Filmzeitschrift „Schnitt“ zu sagen: als „sozialer Ort kollektiver kultureller Erfahrung“ jenseits kommerziellen Verwertungsdrucks – mehr noch, als Ort einer „konkreten Ahnung und Idee vom Kino“, von einer „Form, die so nur im Filmischen existiert“.

Für diese Form stehen in Cannes nicht nur die faszinierenden, mitunter aber ermüdenden Agents provocateurs unter den Filmemachern, sondern all jene Regisseure, die sich mit feinerer Handschrift für höchste Ehren empfehlen. Als Favorit gehandelt wird Jacques Audiards „Un prophète“, eine meisterliche Charakterstudie im Genre-Gewand des Knastfilms. Pedro Almodóvars „Los abrazos rotos“, sein neuestes Familien-Patchwork aus der Filmemacherwelt, gehört ebenso in diesen Kreis wie Jane Campions „Bright Star“. Nur – wie eiskalt ist das Händchen, mit dem sie das filmische Liebes-Stilleben zwischen dem früh verstorbenen Dichter John Keats und seiner Nachbarin Fanny Brawne stickt!

Ins Vorderfeld der Palmen-Kandidaten hat sich zuletzt zudem Michael Haneke geschoben, auch er ein kühles Temperament. Für den Fall allerdings, dass sein „Weißes Band“ um die subtilen Strafrituale in einem norddeutschen Dorf triumphieren sollte, schnitzen die Kommentatoren an der Croisette schon jetzt die Ruten. Doch welche Befangenheit ist ausgerechnet der selbstbewussten Isabelle Huppert zu unterstellen, nur weil sie mit Haneke 2001 „Die Klavierspielerin“ und zwei Jahre später „Wolfzeit“ drehte? Cannes hat beide, Haneke und Huppert, in ihre jeweiligen Festival-Rollen berufen, und hat gut daran getan.

Herausragend war der anregende Croisette-Jahrgang 2009 vor allem wegen des Getöses, das um wenige seiner Wettbewerbsbeiträge entstand. Filme, die zwecks purer Publikumsvergnügung Lachsalven provozieren, haben es schwerer – Ang Lee zum Beispiel mit seiner federleichten „Taking Woodstock“-Petitesse oder auch Ken Loach, der in „Looking for Eric“ mit schlussendlich überschäumendem Spaß am Quatsch den Teamgeist feiert. Eine Palme für eine Komödie: Ja, das wäre revolutionär! Könnte ja sein, dass Isabelle Huppert auf ihrem Foto in „Libération“ genau das verbirgt: ein gelöstes Gesicht, lachtränenblind.

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