zum Hauptinhalt
Kino am Mehringplatz.

© Barbarella

Kiez-Kino am Berliner Mehringplatz: „Fast wie im Wahlkampf“

Der Mehringplatz in Kreuzberg gilt als „sozialer Brennpunkt“, die Anwohner fühlen sich alleingelassen. Ein Freiluftkino ist nun eine Einladung, diesen Ort kennenzulernen.

Von Andreas Busche

Nähert man sich von Norden über die Friedrichstraße dem Halleschen Tor, endet Kreuzberg im Grunde schon – bevor es richtig angefangen hat. Hier mündet die Friedrichstraße, die zur Zeit von Friedrich I. die zentrale Nord-Süd-Tangente der Friedrichstadt darstellte, in einer verkehrsberuhigten Sackgasse.

Prächtige Lage eigentlich, die aber auch ein bisschen zum Vergessen einlädt: Der Mythos Kreuzberg lebt ja eher in den Postbezirken 61 und 36 weiter südlich. Dabei befindet sich hier das historische Rondell am Halleschen Thore, Vorplatz einer der drei ältesten Stadttore. Der ist heute unter dem Namen Mehringplatz bekannt – und ruft bei alteingesessenen Berliner:innen eher ungute Assoziationen hervor.

Bei Licht betrachtete, an einem sonnigen Junimorgen, leuchtet einem nur schwerlich ein, warum der Mehringplatz noch immer so einen schlechten Ruf hat und das Stigma „sozialer Brennpunkt“ trägt. Jugendliche kommen lachend aus dem Edeka, ältere Frauen mit Kopftüchern tragen ihre Einkäufe vom Wochenmarkt, im türkischen Café Choco Latte kommen Alt-Kreuzberger und die migrantische Community zusammen. „Der Platz macht etwas mit einem“, sagt Heike-Melba Fendel, während sie an ihrer Cola nippt. Und sie findet, dass dieser Ort viel besser ist als sein Ruf.

Der Platz macht etwas mit einem. Es gibt hier ganz viel Zusammenhalt und Unterstützung.

Heike-Melba Fendel, Organisatorin des Kinos am Mehringplatz

Dem Mehringplatz ist lange übel mitgespielt worden. Nach dem Mauerbau befand er sich gewissermaßen am Ende von Westberlin, die Idee einer sozialen Stadtplanung verwandelte das Viertel in eines der ärmsten Berlins. Von 2011 bis zum vergangenen Sommer war das Rondell mit der 1843 von Christian Gottlieb Cantian erbauten Friedenssäule zudem eine Dauerbaustelle, der Ort verwaiste und verwahrloste.

Die Ladengeschäfte im äußeren Ring der Wohngebäude um den Platz finden seitdem nur langsam neue Mieter. „Als ich 2019 in den Kiez zog“, erinnert sich Fendel, „stellte ich fest, dass die Baustelle immer noch da ist. Da hat sich meine linke Seele gemeldet: Es kann doch nicht sein, wie man hier mit den Menschen umgeht.“

Das soziale Gefälle am Platz

Fendel ist seit über dreißig Jahren eine feste Größe in der deutschen Filmbranche. Die von ihr mitgegründete Agentur Barbarella Entertainment vertritt unter anderem Dunja Hayali, Maria Furtwängler, Eugene Boateng, Mirna Funk und Matthias Brandt, sie moderiert Veranstaltungen, publiziert und sitzt manchmal in Talkshows.

Seit vier Jahren wohnt sie am Südende der Friedrichstraße, wo am Wochenende Limousinen vor dem Fine-Dining-Restaurant Nobelhart und Schmutzig vorfahren – während ein paar hundert Meter weiter Obdachlose den Mehringplatz als öffentliche Toilette benutzen. Sie erlebt das soziale Gefälle jeden Tag. „Der Platz hat sich immer noch nicht von der Baustelle erholt“, stellt Fendel fest.

Die Veranstalterinnen Heike-Melba Fendel (links) und Vivien Buchhorn (rechts), zwischen ihnen Johanna Landscheidt und Candy Hartmann vom Quartiersmanagement.
Die Veranstalterinnen Heike-Melba Fendel (links) und Vivien Buchhorn (rechts), zwischen ihnen Johanna Landscheidt und Candy Hartmann vom Quartiersmanagement.

© David Heerde

Nachdem sie die Zustände eine Weile beobachtet hatte, fragte sie sich, was sie tun könne, um dem Ort zu helfen. Und die Antwort, meint Fendel lachend, lautete natürlich: Was sie am besten versteht. Also Kino. Als erster Ort für ein Pop-up-Kino hatte sie den Edeka im Blick, der an diesem Samstag aber für immer schließt – was die Versorgungslage für die Anwohner:innen weiter verschlechtert, zumal dort auch Jugendliche aus dem Kiez Arbeit gefunden haben.

Zusammen mit dem Quartiersmanagement Mehringplatz entschied sie sich schließlich für die kleine, von drei Seiten von Gebäuden eingeschlossene Fläche vor dem Choco Latte. An fünf Tagen veranstalteten sie dort im vergangenen Sommer erstmals das Kino am Mehringplatz.

Freiluftkinos hat Berlin wahrlich genug, aber keins wie das Kino am Mehringplatz. Die Klappstühle zwischen den Bäumen bieten zwar wenig Komfort, dafür herrscht eine nachbarschaftliche Stimmung. Der Eintritt ist frei. Und wenn es – wie im vergangenen Sommer – regnet, verteilen die Unterstützerinnen Glühwein und Pizzabällchen an die Gäste.

Die Programmflyer händigen Fendel und ihre Kollegin Vivien Buchhorn persönlich aus. „Ich verstehe jetzt zum ersten Mal, was es bedeutet, Kino zu machen. Vivien und ich haben uns letzten Sommer auf den Platz gestellt und Werbung gemacht. Wir wollten herausfinden, was die Menschen für Filme sehen wollen, das war fast wie Wahlkampf.“

Die Menschen, die am Mehringplatz leben, wollen ihre eigenen Geschichten auf der Leinwand sehen.
Die Menschen, die am Mehringplatz leben, wollen ihre eigenen Geschichten auf der Leinwand sehen.

© Barbarella Entertainment

Die Antworten waren so erwartbar (Kida Ramadan) wie verblüffend („Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“). Und die jungen Frauen, mit denen Fendel und Buchhorn sprachen, erzählten, sie würden gerne Filme über junge Frauen sehen. Darum wird an diesem Samstag die zweite Open-Air-Kinosaison am Mehringplatz mit Aysun Bademsoys Dokumentarfilmen „Mädchen am Ball“ (1995) und „Nach dem Spiel“ (1997) über den Kreuzberger Fußballverein BSC Agrispor eröffnet. Der hatte in den 1990er Jahren die europaweit erste türkische Frauenmannschaft.

Aufwertung des Ortes

„Heike bringt eine Aura der Filmwelt mit, die den Menschen hier etwas bedeutet“, sagt Candy Hartmann, die seit 2006 das Quartiersmanagement Mehringplatz leitet. „Sie merken, dass man sich für sie interessiert.“ Im vergangenen Jahr kamen Tom Schilling, Tobias Krell aka Checker Tobi und Eugene Boateng zu den Vorstellungen.

Hartmann ist es wichtig, dass die Anwohner:innen sich als Teil des Kinos fühlen und bei Entscheidungen eingebunden sind. Sie und ihre beiden Mitarbeiterinnen sind für viele Menschen am Platz die erste Anlaufstelle, eine Aufwertung des Ortes und eine höhere Kiez-Identität schaffen sie mit kulturellen und Bildungsangeboten. Hartmann: „Im Kino kommen ganz viele unserer Aufgaben zusammen.“    

Wafaa Khattab hat im Rahmen der „Thementische“ mit den türkischen und arabischen Frauen vom Mehringplatz sogar ein Filmprojekt ins Leben gerufen, für das Fendel eine professionelle Crew organisiert. „Viele kennen die Lebenswelten dieser Frauen nicht oder sie haben Vorurteile, weil einige Kopftücher tragen“, erzählt die gebürtige Kreuzbergerin Khattab. „Aber ich habe auch eine Uber-Fahrerin und eine Akademikerin in meiner Gruppe. Die Frauen genießen ihre Leben trotz häufiger Diskriminierung und wollen diese Seite ihres Alltags erzählen.“ Die Dreharbeiten sollen im September losgehen, die Premiere wird im Sommer 2024 stattfinden, natürlich am Mehringplatz.

Kino und Wirklichkeit

Fendel betont, dass sie ihr Engagement weder als Sozialprojekt noch als pädagogische Arbeit versteht. Sie fragt sich aber nicht erst seit der Pandemie, welche gesellschaftliche Funktion das Kino heute noch hat. Ihre Antwort fand sie am Mehringplatz, wo sie von der Bedienung im Café wie von der netten Dame am Nachbartisch freundlich gegrüßt wird. Sie paraphrasiert einen Satz von Frank Plasberg: „Wenn Kino auf Wirklichkeit trifft.“

Die Leute hätten die „Medientrulla“ (O-Ton Fendel), die glaube, sie könne Menschen hier etwas erzählen, auch nicht ernst nehmen müssen. „Aber es gibt hier ganz viel Zusammenhalt und Unterstützung.“ Die Betreiberin des Choco Latte überlässt ihr die Schlüssel zum Café, sodass die Kinogäste abends die Toiletten benutzen können. 

Die eigene Lebenswelt wiederfinden: Anwohner aller Altersgruppen sollen an dem Kino-Projekt teilhaben.
Die eigene Lebenswelt wiederfinden: Anwohner aller Altersgruppen sollen an dem Kino-Projekt teilhaben.

© Kino am Mehringplatz

Zu den Institutionen am Platz gehört auch das Café Madame in einem der Ladenlokale im äußeren Ring um das Rondell. „Ohne Karins Zustimmung läuft hier nichts“, sagt Fendel verschwörerisch, während sie ihr Fahrrad parkt.

Die resolut-herzliche Karin Lücker betreibt das Madame seit acht Jahren und ist die Gründerin des Globale e.V., der sich um die kindliche Bildung und das Gemeinwesen im Kiez verdient gemacht hat. Davor hat sie lange in Montevideo gelebt und bringt nun etwas lateinamerikanisches Flair in die Betonwüste.

Lücker war die Erste, die hier Filme gezeigt hat (mit spanischen Untertiteln), im vergangenen Jahr war Hanns Zischler mit „Berlin Chamissoplatz“ – auch so ein Film über innerstädtische Verdrängung – zu Gast. Fendel verspricht ihr, in den nächsten Tagen ein paar Flyer für die Kinoeröffnung vorbeizubringen. „In dem Haus da“, sagt Lücker beim Abschied und zeigt über den Platz, „geht seit Monaten der Fahrstuhl nicht und keinen interessiert’s. Darüber müssen sie mal schreiben.“

Fendel sieht herüber zur Rasenfläche des Rondells, die unter der Junisonne bereits vor sich hindörrt. „Den ganzen Sommer sperren sie den Platz ab, um den Rasen zu schonen, und jetzt lassen sie ihn vertrocknen“, meint sie kopfschüttelnd. Darum verteilt das Quartiersmanagement in diesen Tagen eine „Insektenmischung“ an die Anwohner, mit eigenem Mehringplatz-Logo. Das Motto auf den Saatgut-Tütchen könnte auch für das Kino-Projekt gelten: „Zusammen etwas wachsen lassen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false