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kiew in den dreißiger Jahren.

© Getty Images

Kiew-Roman "Die Stadt": Die Geheimnisse von Kiew

Endlich ins Deutsch übersetzt: Walerjan Pidmohylnyjs hundert Jahre alter Roman "Die Stadt", ein Klassiker der ukrainischen Moderne.

Als Stepan zum ersten Mal nachts von der Leninstraße zum Khraschatyk läuft, dem Prachtboulevard im Zentrum von Kiew, ist er gleichzeitig entzückt und entsetzt. So sehr überwältigt ihn das „Gedröhne und Geklingel“ der Straßenbahnen, das „heiseren Geheul der Busse“, das „gellende Hupen der kleinen Automobile“ und das „dumpfe Summen der wogenden Menschenmasse“, dass er stehen bleiben muss und sich an eine Fassade lehnt.

Soldaten in schweren, stickigen Uniformen, Dandys mit fliegenden Mänteln, junge Frauen mit Bubiköpfen, Matrosen der Dnepr-Flotte und „zerstreute Einzelgänger, die Hamlets der Straße“ ziehen an ihm vorbei. Stepans Seele sei eine „empfindliche Fotoplatte“, konstatiert Walerjan Pidmohylnyj in seinem 1928 veröffentlichten Roman „Die Stadt“. Voller Enthusiasmus lässt er seinen jugendlichen Helden aus einem Dorf in der Provinz zum Studium nach Kiew aufbrechen.

Die Präzision, mit der Pidmohylnyj die Großstadt und ihre Bewohner porträtiert, erinnert mitunter tatsächlich an einen Fotografen. Oder, in Wimmelbildszenen wie oben, an einen Filmregisseur. Stepan könnte ein Vorläufer des Ich-Erzählers von Christopher Isherwoods Buch „Leb wohl, Berlin“ sein, der einige Jahre später, 1939, von sich sagt: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluss.“

Blick ins offene Herz

„Die Stadt“ ist ein Klassiker der modernen ukrainischen Literatur, in der ungestümen Kraft seiner Erzählung vergleichbar mit Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Dass er jetzt zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung erscheint, ist ein Verdienst des kleinen, für Wiederentdeckungen bekannten Berliner Guggolz-Verlags. Ausgerechnet jetzt, wo Krieg herrscht und Kiew mit russischen Raketen beschossen wird, kann man mit Pidmohylnyj gewissermaßen ins offene Herz dieser Stadt schauen, die vor hundert Jahren ähnlich boomte wie zuletzt und von ähnlich herber Schönheit war.

Stepan nähert sich Kiew gleitend, auf einem Dampfer, der den Dnepr befährt. Als Waisenkind aufgewachsen, hatte er sich während der Revolution den Aufständischen angeschlossen und gegen „weiße Banden“ gekämpft. Danach war er in seinem Dorf – dieser „zauberhaften Blüte der Erde“ – zum Gewerkschaftssekretär aufgestiegen, der nebenher eine Bibliothek aufbaute.

Zauberhaft erscheint ihm nun auch die Stadt, die sich vom Hügel hinab zum Ufer erstreckt. Von der Revolutionsstraße bewegt sich ein Strom von Jungen und Mädchen, Frauen und Männern über eine breite Treppe zum Fluss, einem Bad in der Sonne und im Wasser entgegen.

„In diesem Getümmel war kein Platz für schlechte Laune“, schwärmt Stepan. „Dort, am Rande der Stadt, begann eine neue Welt, die Welt der elementaren Freuden.“ Aber nachdem er von Bord gegangen ist, kommt ihm plötzlich alles fremd und fad vor. Stepan gehört zu den wechselwarmen Wesen, schnell kann sein Enthusiasmus umschlagen in Trübsinn. Mit ihm ist Nadijka nach Kiew gekommen, ebenfalls um zu studieren. Sie will er genauso erobern wie die Stadt, aber als ihm das gelungen ist, ist er ihrer Liebe schon wieder überdrüssig. Das wird dem Narzissten noch mit einigen anderen Frauen passieren.

Vom Rand ins Zentrum

Interessant ist „Die Stadt“ auch aus soziologischer Sicht. Denn Stepan bewegt sich durch verschiedene Milieus, von der Universität übers Kleinbürgertum in die Künstler-Boheme und zu den Neureichen, die Politik streift er natürlich auch. Topografisch führt sein Weg vom Rand ins Kiewer Zentrum. Als Habenichts muss Stepan sich „durchbeißen wie ein Holzwurm“.

Damit fängt er beim Fischhändler Hnidy an, bei dem er zunächst im Schuppen übernachtet, später eine Matratze im Haus bekommt, wofür er morgens die Kühe versorgen muss. Seine Prüfungen an der Hochschule der Ökonomie besteht er glänzend, doch irgendwann verlässt ihn die Lust und er geht nicht mehr hin.

Valerjan Pidmohylnyj (1901 bis 1937).
Valerjan Pidmohylnyj (1901 bis 1937).

© wikimedia.commons

Der Roman spielt während der von Lenin verordneten Neuen Ökonomischen Politik, einer Phase wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Lockerungen. Berücksichtigt werden nun auch die nationalen Besonderheiten der in der Sowjetunion zusammengeschlossenen Völker. Stepan bekommt einen Job als Ukrainisch-Lehrer, hält Vorträge, übernimmt einen Lernzirkel.

Vom Gehalt kauft er sich einen Anzug, die Feldjacke, die er bis dahin getragen hat, verbrennt er.

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Auf Hauswänden, Plakaten und Zeitschriften hätten weiche Farben die grelle Buntheit der Revolution abgelöst, heißt es einmal. Und das Wort „Genosse“ könne jetzt ganz locker ausgesprochen werden, als wäre es nie „ein Symbol der Gewalt und Plünderung“ gewesen.

Es gibt einige solcher Sarkasmen in dem Buch, sicher ein Grund dafür, dass Pidmohylnyj Ärger mit den Zensoren bekam. Für die Rolle eines Vorzeigeproletariers war der Sohn eines Gutsverwalters, 1901 im Dorf Tschapli geboren, ungeeignet. Ab 1920 veröffentlicht er Erzählungen,zwei Jahre später wird er Redakteur bei der Zeitschrift „Leben und Revolution“. 1930 fällt er in Ungnade. Pidmohylnyj verliert seinen Posten, kann kaum noch publizieren, übersetzt stattdessen Maupassant, Anatol France, Stendhal. 1934 wird er verhaftet, 1935 in ein Lager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer deportiert.

[Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok. Guggolz, Berlin 2022. 415 Seiten, 26 €]

Im November 1937 erschießt man ihn dort zusammen mit anderen ukrainischen Autoren und Künstlern, „gewissermaßen zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution“, wie es im Nachwort heißt. „Die Stadt“ erscheint erst wieder 1989. Ins Deutsche übertragen haben den Roman nun – elegant und flüssig – der Ukrainist Alexander Kratochvil und Studierende der Berliner Humboldt-Universität.

Am Drehbuch gescheitert

Zur Welt kam das Buch laut Pidmohylnyj „unerwartet“. Eigentlich wollte er ein Drehbuch für eine Kinokomödie schreiben, weil er scheiterte, machte er daraus seinen einzigen Roman. Sein Held hat mehr Glück. Stepan bringt es mit einem Drehbuch zu Wohlstand. So wie er im zweiten Teil der Geschichte als Schriftsteller reüssiert, erscheint er wie ein Nachfahre von Bel Ami und Lucien de Rubempré, dem Auf- und Absteiger aus Balzacs „Verlorenen Illusionen“.

Erstes Aufsehen erregt er mit der Bürgerkriegs-Erzählung „Das Rasiermesser“, für Pidmohylnyj ein Anlass, sich über Revolutionsromantik lustig zu machen. „Genosse Stepan“ hat als Literaturredakteur genauso Erfolg wie als Liebhaber. Seine Affären werden zu Melodramen. Die schöne Zoya, der er die Ehe versprach, vergiftet sich. Stepan will Ruhm, er schreibt einen Roman über die Stadt Kiew. „Das Leben ist ein Fleischwolf“, sagt ein Kollege. „Schau nur, womit sie uns füttern!“

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