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Die Hamburger Schriftstellerin Katrin Seddig

© Bruno Seddig

Katrin Seddigs Roman „Nadine“: Eine Frau sieht rot

Die Hamburger Schriftstellerin erzählt in ihrem neuen Roman von einer Frau, die sich nicht mehr beherrschen will und rebelliert.

Jeder trauert anders. Nadine verliert die Beherrschung. Zunächst reagiert Katrin Seddigs Titelfigur, anders als ihr Mann, irritierend emotionslos auf die Nachricht, dass sich ihre erwachsene Tochter Mizzi umgebracht hat. Das Leben müsse eben weitergehen, und überhaupt: Glücklich könne man seine Kinder sowieso nicht machen. So taucht die Protagonistin schon eine Woche nach der Beerdigung wieder in der Kanzlei auf, wo sie als Anwaltsgehilfin arbeitet, zur freudigen Überraschung ihres Chefs. Der nicht ahnen kann, dass es um Nadines Impulskontrolle gerade nicht zum Besten steht.

Ihrem Vater zum Beispiel, der längst pflegebedürftig ist, aber noch immer gern den Herrn im Haus mimt, verpasst Seddigs Protagonistin gleich zweimal eine Ohrfeige, zack, einfach so und ohne schlechtes Gewissen. „Nadine“, Seddigs inzwischen sechster Roman, erzählt von einer Frau, die sich zeitlebens bis zur Selbstaufgabe an die Erwartungen der patriarchalen Gesellschaft angepasst hat. Und die darin nun keinen Sinn mehr sehen kann.

„Immer verdirbst du alles, sagt sie in ihrem Kopf, weil du dich nicht beherrschen kannst. Weil du dich einfach nicht beherrschen kannst. Dabei tut sie seit so vielen Jahren nichts anderes, als sich beherrschen. Beherrscht sich mit dem Essen, beherrscht sich mit jedem Wort, stoppt sich, bremst sich – leiser, Nadine, vorsichtiger, Nadine! – macht sich so klein, wie es geht, so leicht, wie es geht, so leise, wie es geht, ist ja fast schon durchsichtig.“

In einer geschmeidigen Prosa erzählt

Stichwort Essen: Schlank müsse man sein, zumal als Frau, das hatte ihr, der etwas moppeligen Schülerin, einst der Vater gepredigt. Jetzt, nach Mizzis Freitod, kauft sich die Mittfünfzigerin lieber neue Sachen, als dass sie auf den einzigen Trost, der ihr noch geblieben ist, das Essen, verzichten würde. Die Lust am Sex hatte ihr bereits Jahre zuvor, erzählt in einem besonders beklemmenden Rückblick, ihr Ehemann Frank ausgetrieben.

Frank war einst Nadines Logopäde gewesen; dass seine 18 Jahr jüngere Frau ihrer Lust ungezügelt freien Lauf ließ, hatte ihn ebenso verstört wie Nadines erotisches Vorleben. Erst Nadines Schwangerschaft lässt sie für ihn wieder „rein“ werden „wie mit Persil gewaschen“. Rückblenden wie diese, mit einer Jahresangabe am Anfang als Orientierungspunkt, wechseln sich mit den Ereignissen nach Mizzis Suizid ab, machen aus Nadines Leben ein sich Stück für Stück vervollständigendes Puzzle.

Zuletzt beeindruckte Katrin Seddig mit „Sicherheitszone“: In diesem Roman unternahm die Hamburger Autorin, Jahrgang 1969, am Beispiel einer gewöhnlichen oder besser: gewöhnlich kaputten Familie eine multiperspektivische Bestandsaufnahme der Gegenwart; mit einem urbanen Ausnahmezustand, dem G20-Gipfel in Hamburg, als Katalysator. „Nadine“, in einer geschmeidigen Prosa erzählt, bleibt dagegen ganz auf die Titelfigur fokussiert. Doch im Kern geht es ebenfalls um die Geschichte einer Familie, von den sechziger Jahren bis heute.

Eine Familie, in der sich die Frauen gleich reihenweise das Leben nehmen: Erst Nadines Großmutter väterlicherseits, dann ihre alkoholkranke Mutter, die sich Anfang der Siebziger auf und davon gemacht hatte, um ihrem Traum von einer Karriere als Sängerin nachzujagen – für die damals zehnjährige Nadine wurde dieses Verlassenwerden die Quelle einer lebenslangen Verstörung und Wut.

Und nun Nadines Tochter Mizzi, ein hochbegabtes Mädchen, das sich an keine Regeln halten wollte und konnte, auch deshalb, weil Nadine ihr von klein auf alles durchgehen ließ, um es anders zu machen als ihr eigener Vater, der sie in seiner Hilflosigkeit als Alleinerziehender mitunter tagelang in einer Kammer einsperrte. Und von dem sie, der „Trampel“, lernen musste, sich richtig zu benehmen, zu sprechen und zu beherrschen. Oder, wenn er sie zur Jagd, seiner großen Leidenschaft, mitnahm, mitleidlos abzudrücken.

Gleichermaßen deprimierend wie eindrucksvoll

In der Gegenwart muss Nadine ihren Vater in einem Rollstuhl durch sein Revier schieben, während der alte Patriarch „wie ein Baby“ seine Büchse im Arm hält. „Er ist immer noch Jäger. Hat schon lange Schwierigkeiten, seine Schnürsenkel zu binden, eine Kaffeetasse zu halten oder seinen Urin. Er kann nicht gehen und kaum etwas sehen, aber schießen kann er, wenn er das möchte. Niemand ist auf die Idee gekommen, ihm zu sagen, dass er es nicht darf. Keiner von seinen Jagdkollegen ist vorbeigekommen, um ihm die Waffe wegzunehmen.“

Wie Nadines Vater vom Rollstuhl aus auf eingebildete Wildschweine schießt, bis ihm Nadine wütend die Büchse aus den Händen reißt, ist die wohl stärkste Szene dieses gleichermaßen deprimierenden wie eindrucksvollen Romans.

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