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Die Berliner Schriftstellerin Katerina Poladjan. Sie wurde 1971 in Moskau geboren.

© dpa

Katerina Poladjans Roman "Zukunftsmusik": Gern auf dieser Welt

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, der am Donnerstag vergeben wird: Katerina Poladjans wunderbarer russischer Roman "Zukunftsmusik".

Es hat seinen Reiz, diesen in jedweder Hinsicht wunderbaren Roman von Katerina Poladjan vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse zu lesen. Man kann ihn als Epochenroman verstehen, den einer zeitlich genau abgegrenzten, jetzt abgeschlossenen Epoche.

„Zukunftsmusik“, so der Titel , ist just in den Tagen veröffentlicht worden, da Russland die Ukraine überfallen hat und sich in seinem Innern endgültig als das erweist, worauf die langen Jahre unter Putin zunehmend hingedeutet hatten: als brutale Diktatur. Poladjans Roman spielt an einem einzigen Tag, zu Beginn einer Zeitenwende, die wiederum am 24. Februar dieses Jahres ultimativ zu Ende gegangen ist: am 11. März 1985. Es ist dies der Tag nach dem Tod von Konstantin Ustinowitsch Tschernenko, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, des mächtigsten Mannes der Sowjetunion also.

Auf ihn wird Michail Gorbatschow folgen, die Perestroika, der Fall des Eisernen Vorhangs, die Zukunft, die zunächst eine durchaus verheißungsvolle zu werden verspricht.

Der Tag, an dem Tschernenko starb

Doch davon wissen die Figuren dieses Romans selbstverständlich nichts. Höchstens spüren sie, dass es so nicht weitergehen kann: nicht an ihren Arbeitsplätzen, wo einiges zu zerfallen droht, wo inzwischen ganz offensichtlich der Schlendrian regiert; und nicht in ihren heruntergekommenen Häusern und Wohnungen.

Die Zukunftsmusik jedenfalls, die „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“ in einer hier namenlosen Stadt aus den Transistorradios erklingt, ist denn auch zunächst, eine düstere, Chopins Trauermarsch. Dieser verweist darauf, dass etwas Entscheidendes passiert sein muss. „Eine Geschichte ging zu Ende, eine andere begann“ heißt es hier irgendwann lapidar.

Die Geschichten dieses Romans auf der vorderen Bühne sind andere, privatere; skurrile mitunter, solche mit tiefgründigem Humor, lebensnahe. Sie vermitteln an mancher Stelle immerhin eine Ahnung davon, dass die historischen Umwälzungen ihre Auswirkungen auf die Figuren von „Zukunftsmusik“ haben könnten, die Zeit des Stillstands und der lastenden Sowjetherrschaft vorbei sind.

Neun Quadratmeter persönlicher Wohnraum stehen jeder Bürgerin und jedem Bürger der Sowjetunion im Jahr 1985 laut Gesetz zur Verfügung. Nur haben nicht alle sechs Mietparteien der Kommunalka diese neun Quadratmeter in jenem Haus der Gründerzeit, das den zentralen Schauplatz in Poladjans Geschichte darstellt.

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Vor allem nicht die vier Frauen aus vier Generationen, die hier in einem Zimmer mit bröckelndem Stuck leben: Warwara Michailowna, ihre Tochter Maria Nikolajewna, Warwaras Enkeltochter Janka sowie deren dreijährige Tochter Kroschka. Warum es kam, dass die Frauen dieser Familie sich auf so engem Raum zusammenfinden mussten, das schildert Poladjan fast beiläufig: ein Ehemann, der plötzlich starb, ein anderer, der weggelaufen ist, ein Kind, das seinen Vater nicht kennt, weil seine Mutter nicht weiß, von wem es ist. Doch keine von ihnen ist verzagt, gar verzweifelt. Alle haben Pläne, spielen ihre eigene Zukunftsmusik: Warwara wäre es am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie fühlt sich wohl, hat sogar einen Liebhaber in der Kommunalka; Janka wird an diesem 11. März 1985 abends ein Konzert im Gemeinschaftsraum geben. Obwohl sie ihre Arbeit in einer Glühbirnenfabrik mag, träumt sie von einer Karriere als Musikerin: „Bis zu ihrem 21. Geburtstag würde sie ein unvergessliches Lied schreiben“.

Und Maria Nikolajewna knüpft zarte Bande zu ihrem Nachbarn Matwej Alexandrowitsch, der einzigen männlichen Hauptfigur mit eigenen Kapiteln in diesem Roman. Wie schön das Leben sei, gesteht sie ihm bei einem Gläschen Cognac, „das sage ich manchmal so vor mich hin und glaube mir das dann auch. Wirklich Matwej, ich lebe gern auf dieser Welt."

"Bäume, sagen Sie? Sie lesen zu viel Turgenjew"

Am bezwingendsten ist die Leichtigkeit, mit der Katerina Poladjan, die 1971 in Moskau geboren wurde und in Berlin lebt, all das auf schmalem Raum erzählt. Die äußeren Verhältnisse skizziert sie mit klaren Bildern, mit Lenin-Statuen, Straßenbahnen oder den Schloten der Glühbirnenfabrik, „aus denen zum Zeichen der Produktionskraft Rauschschwaden quollen" – um dann stets zu den wichtigeren, entscheidenderen Dingen im Leben auch eines jeden Sowjetmenschen zu kommen: Liebe, Zuneigung, Glück.

Der Ton erinnert dabei an die Literatur des 19. Jahrhunderts, an Turgenjew, Tschechow oder Tschernyschewski, auf die Poladjan nebenbei auch verweist. Etwa wenn sie Matwej einen Exkurs über Bäume führen lässt und Maria Nikolajewna zu ihm sagt: „Bäume, sagten Sie? Sie lesen zu viel Turgenjew“.

Oder wenn er erklärt: „Tschernyschewski zeigt uns mit Vera Pawlowna, dass unter der Herrschaft der Umstände nicht jeder Kürbis überleben wird und dass nicht jeder Kürbis ein besseres Leben verdient. Es handelt sich um eine Utopie.“

Dazu kommt mancher surreale Moment, das Hinweggeträume, das sich die Figuren bisweilen erlauben. Der Professor, der in der Kommunalka wohnt und den schon lange keiner mehr gesehen hat, hat sich gar mit einen Schleudersitz durch die Decke seines Zimmers ins Universum katapultiert. Das erinnert an Michail Bulgakow, auch an eine Figur aus der Romanwelt von Norbert Scheuer.

Katerina Poladjans Roman, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, erzählt in seinem Kern von der Liebe, von der Hoffnung auf und der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Die politischen und gesellschaftlichen Umstände jener Zeit bedenkt er stets mit, aber unaufdringlich, dezent. Das Schöne ist, dass dieses Buch jenseits jedweder Aktualität eine Klasse für sich ist. Jene Zukunftsmusik, die ist eben oft auch eine Musik des Zufalls.

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