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Jürgen Habermas im Jahr 2016

© imago images/epd

Sorge vor drittem Weltkrieg: Jürgen Habermas wirbt für „rechtzeitige Verhandlungen“ mit Putin

Der Philosoph appelliert an den Westen, im Ukraine-Krieg nach „erträglichen Kompromissen“ zu suchen. Eindrücklich macht er die unweigerlich gestiegene Mitverantwortung des Westens deutlich.

Zweimal nimmt Jürgen Habermas in seinem am Dienstagabend in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlichten Plädoyer für Verhandlungen im Ukraine-Konflikt Bezug auf „die Hälfte der Bevölkerung“, die skeptisch, wenn nicht gar ablehnend den westlichen Waffen- und zuletzt Kampfpanzerlieferungen an die Ukraine gegenübersteht. Von dem „Zögern“ und der „Reflexion“ dieser Gruppe spricht der 93 Jahre alte Philosoph, das es schwer hat, sich gegen den „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ Gehör zu verschaffen.

Und Habermas erwähnt eine in Deutschland „allmählich einsetzende Diskussion über Sinn und Möglichkeit von Friedensverhandlungen“ – und dass er sich den Stimmen anschließe, „die auf ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängen“.

Ob Habermas bei diesen Zeilen auch an das „Manifest für Frieden“ gedacht hat, das vor einer Woche die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer in einer auf den ersten Blick bizarr wirkenden Koalition aufgesetzt und veröffentlicht hatten? Auffällig ist, dass sein eindringlicher, vorsichtig abwägender Essay just nach dieser größtenteils öffentlich schnell verurteilten „Manifest“-Veröffentlichung erscheint, so wie es vor knapp einem Jahr schon einmal der Fall gewesen ist.

Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert (...).

Jürgen Habermas

Habermas hatte im April 2022 ebenfalls in einem Essay für die „Süddeutsche Zeitung“ das Zögern des Bundeskanzlers in puncto Waffenlieferungen verteidigt und die „Selbstgewissheit“ mancher politischen Entscheidungsträger kritisiert, zeitgleich mit einem von diversen Prominenten, unter anderem von Alice Schwarzer, Juli Zeh oder Alexander Kluge unterzeichneten Offenen Brief an den Bundeskanzler, in dem dieser darum gebeten wurde, nicht noch mehr schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. 

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Es ist „dieser Prozess der Aufrüstung“, mit dem Habermas einsteigt. Dessen schwer zu verkennende Dynamik bereitet ihm Sorge, nicht zuletzt wegen der ukrainischen Forderungen nach weiteren Waffentypen nach der Leopard-Zusage. Er sehe die Gefahr, „unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinausgetrieben zu werden“.

Im Zentrum seines stringent-verständlichen Essays umtreiben Habermas zwei Fragen: Ab wann der Westen zur Kriegspartei wird, ob er es nolens volens nicht gar schon ist. Auch, dass die US-Regierung „die formale Rolle eines Unbeteiligten nicht aufrechterhalten“ könne.

Die andere Frage ist eine Diskrepanz, die auch begrifflicher Natur ist: Einerseits dürfe die Ukraine nicht „verlieren“, weshalb sie so lange wie möglich unterstützt werden solle. Andererseits heißt es in inzwischen häufig, dass Russland, dass Putin „besiegt“ werden müsse. Woraus für ihn folgt, dass auch innerhalb der politischen Fraktionen Gegensätze zwischen Pazifisten und Nicht-Pazifisten eher diffus seien und sich „auch in dem breiten Lager der parteinehmenden Unterstützer der Ukraine sich die Geister scheiden im Hinblick auf den richtigen Zeitpunkt für Friedensverhandlungen.“. 

Suche nach erträglichen Kompromissen

Ein weiterer Argumentationsstrang, auf dem Habermas sich bewegt, ist ein historischer. Es ist die Erkenntnis nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der die Charta der Vereinten Nationen und der Einrichtung des Gerichtshofs in Den Haag hervorgegangen sind, dass kein souveräner Staat mehr das Recht habe, nach Belieben Krieg zu führen: „Wenn der Ausbruch bewaffneter Konflikte nicht durch schmerzhafte, auch für die Verteidiger des gebrochenen Rechts selbst schmerzhafte Sanktionen verhindert werden kann, ist die gebotene Alternative – gegenüber einer Fortsetzung des Krieges mit immer mehr Opfern – die Suche nach erträglichen Kompromissen.“ 

Habermas macht in seinem Essay keine Vorschläge, wie die Verhandlungen aussehen sollten, ein Status quo ante 23. Februar scheint ihm ein Ausgangspunkt zu sein. Sein Appell aber ist ein eindrücklicher, sein Verweis auf die unweigerlich gestiegene Mitverantwortung des Westens in diesem Krieg.

Habermas widerspricht letztendlich seinem Lebenswerk, seinem philosophischen Wirken, und spielt damit genau dem in die Karten, wogegen die Kritische Theorie immer argumentiert hat: das Wiederaufleben einer antiliberalen, totalitären Gesellschaftsordnung.

Schreibt Community-Mitglied iuklin

Und zu dieser Verantwortung gehöre eben auch, Strategien zu entwickeln, diesen Krieg jenseits von Sieg oder Niederlage so schnell wie möglich zu beenden. Das dürfte nicht ohne Widerspruch bleiben – aber so wie Habermas hier argumentiert, wird seine Stimme nicht unerhört bleiben.

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