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„Tango“ von Jürgen Holtz

© Galerie Bernet Bertram

Jürgen Holtz: Kind unter Kannibalen

Zum zeichnerischen Werk des Schauspielers Jürgen Holtz.

Christus hängt zwar nicht wie bei George Grosz als Strichmännchen mit Gasmaske am Kreuz, doch Gasmasken tragen auch Jürgen Holtz’ Gespenster und verstümmeln sich gegenseitig mit Axt, Messer oder Maschinengewehr. Der jüngst verstorbene Berliner Schauspieler, der seit einer Jugend malte und zeichnete, zeigt mit seinen 2019 und 2020 entstandenen Werken in der Galerie Bernet Bertram eine Welt, in der die Großen die Kleinen fressen, in der Ausbeutung, Krieg und Gewalt nicht enden wollen. Sie sind Rückblick auf deutsche Vergangenheit, Bestandspanorama, Zukunftsmusik.

Holtz’ Gäste der „Tafel“ sind keine Bedürftigen, sondern feiste Kannibalen, die der schwarze Felsen der Black- Rock-Finanzbosse ausgespuckt hat, damit sie sich am menschlichen Hackfleisch laben. Als neue Götter thronen Höllenfratzen unter grinsender Sonne. Hochmut, Selbstgefälligkeit und Vermessenheit sind als Tugenden legitimiert, und der Teufel steckt im Detail. Mit Tintenroller, Fett-, Filz- und Aquarellstift krakelt Jürgen Holtz seine Szenarien, in denen die Katastrophe an der Tagesordnung ist und Kampfjets den Himmel verdüstern. Mal in bunter Scheinfröhlichkeit, dann in Schwarz-Weiß. Manchmal möchte man meinen, die sieben Todsünden feiern in neuem Gewand ihre Auferstehung. Sie hatte Otto Dix 1933 in einem monströsen Karneval gegeißelt. Bei Holtz werden sie zu grotesken Manikins, Ausgeburten eines Dreijährigen, aus dessen Perspektive der Künstler das Zeitgeschehen beobachtet.

Als Dreikäsehoch inszeniert sich Holtz selbst in seiner Kunst

Als plärrenden Dreikäsehoch, dem das Lachen noch nicht vergangen ist, integrierte Holtz sich selbst in seine Blätter (Preise: 1600–3800 Euro), eingezäunt im Paradiesgärtlein. Er ist die zu Bild gewordene Signatur und gibt gelegentlich in falscher Orthografie seinen Senf zum Inhalt. „Besser arm ab als arm dran“ oder „wer zuletzt mahlt, mahlt am besten“. Zwei Spaziergänger in Sonntagstracht gehen über Stoppelfelder, deren Ernte dahin ist. Ein Bibelzitat besteht nur noch aus Bruchstücken in Sütterlinschrift. Denn die mit Rucksäcken Beladenen, die zu den Ärzten wanken, erhalten keine Hilfe. Heilung kann nicht gelingen, wenn die Wissenschaft lieber Atombomben konstruiert, statt die Qualen menschlicher Existenz zu lindern. Galileo Galilei ist nicht weit, ihn spielte Holtz vergangenes Jahr am Berliner Ensemble in einer Inszenierung von Frank Castorf.

Längst hat die Gewalt in der Familienstube Einzug gehalten. „Eltern, esst eure Kinder“, lautet die ironische Empfehlung auf einem Blatt. In „Kaspar und Puppe haben ein Kind“ führt das Paar einen Wechselbalg an der Leine, während das Krokodil am Himmel Schlimmstes befürchten lässt. Die Welt ist aus den Fugen, es gibt in diesem absurden Theater keine Perspektive. Zum Lachen ist das keineswegs.

Jürgen Holtz, geboren 1932 in Berlin und dort am 21. Juni 2020 verstorben, verließ 1983 die DDR. Zu seinem 85. Geburtstag präsentierte die Galerie Bernet Bertram erstmals sein bildnerisches Werk mit Zeichnungen, Aquarellen und Schriftfiguren. Der Schauspieler, der auch für Film, Fernsehen und Hörfunk tätig ist, wurde mehrfach ausgezeichnet.
Galerie Bernet Bertram, Goethestr. 2–3; bis 5. September, Mi–Fr 14–18 Uhr, Sa 11–16 Uhr

Angelika Leitzke

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