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Belebtes Gespräch. Fake-Kishon und sein Fake-Nachbar auf Wanderung.

© JFBB

Jüdisches Filmfestival Berlin und Brandenburg: Höhenluft des Geistes

Experimenteller Atheismus: Das Motto des Jüdischen Filmfestivals Berlin und Brandenburg lautet dieses Jahr „No fake Jews“.

Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, bei zehn Grad Kälte, dünn wie ein Leichnam, dass er einmal in ein Wüstenland auswandern, eine völlig fremde Sprache lernen und darin Bücher schreiben würde, um derentwillen sich die Kinder und Enkelkinder des Offiziers, der ihn gerade exekutieren will, in langen Reihen anstellen werden, nur für ein Autogramm von ihm – er hätte sich diesen deplatzierten Scherz verbeten.

Allein in Deutschland haben sich Kishons Bücher mehr als 43 Millionen mal verkauft. Gibt es deplatzierte Scherze in der Welt des Ephraim Kishon? „No fake Jews“ lautet das Motto des 24. Jüdischen Filmfestivals Berlin und Brandenburg. Was aber, wenn jeder Mensch ein Fake ist, also eine Existenzform mit unscharfen, sich verändernden Innen- und Außengrenzen? Ephraim Kishon zum Beispiel, der bekannteste Schriftsteller Israels, dem der israelische Regisseur Eliav Lilti einen wunderbaren, schwebeleichten, schicksalsschweren Dokumentarfilm gewidmet hat.

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Und wie erreicht Lilti in „Kishon“ diese spielerische Gelöstheit, das freie Schwingen seines Films, diese Grundvoraussetzung der Wahrheit? Er erschafft einen Dreiviertel-Fake, eine Kunstfigur: Kishons Nachbarn in den 80ern. Sie standen sich nahfern, ein Nachbar eben, bis eben dieser den Schriftsteller in der Schaffenskrise in Appenzell besucht und sie beginnen, über sein Leben zu sprechen. Da verwandeln sich Befrager und Befragter, Nachbar und Kishon, vor grandioser Schweizer Bergkulisse in Animationsfiguren. Kishon trägt einen Anzug in gedecktem Grau, der Nachbar trägt vorzugsweise giftgraswahrheitsgrün.

Jede Animationsfigur ist schon auf den ersten Blick ein Fake, und sie hat unfassbar viele Vorteile, etwa einen wunderbar erweiterten Aktionsradius. So flanieren der Fake-Kishon und sein Fake-Nachbar durch das Leben des Autors, schauen in das Budapester Haus, in dem Ferenc Kishon, Sohn eines Bankdirektors, 1924 geboren wurde. Sie überqueren diskutierend die Budapester Brücke, über die der Autor als Junge ging, auf der er eine erste große Liebe sah, den Judenstern schon an der Jacke tragend.

Etwas später sitzen sie im Zug Richtung Budapest, in den der aus dem Arbeitslager Geflohene einst einstieg. Ferenc Kishon erkannte seine Bewacher, er wusste, sie erkennen ihn und sagten – nichts. Was soll aus einem werden, der das erlebt, erniedrigt und auserwählt zugleich? Das war die Hand Gottes!, kommentiert der Nachbar. Gott mischt sich nicht ein, antwortet kühl der Theologe Kishon. Wenn er das hört, befürchtet der Nachbar, wird er dir nicht vergeben!

Die Frage sei nicht, ob Gott uns vergibt, so Kishon, sondern ob wir ihm vergeben können, erfährt der verblüffte Nachbar. Das ist die Tonlage des Films, man könnte von einem experimentellen Atheismus sprechen. Es ist, Appenzell sei dank, die Höhenluft des freien Geistes.

Der Regisseur hat auch mit Kishons Kindern gesprochen, sie treten gänzlich unverfremdet auf und zeichnen das Bild eines hochsensiblen Mannes, der schon bei der Erwähnung eines Namens hemmungslos zu weinen anfangen konnte. Josef Gabrovich etwa, das ist der Budapester Nachbar, dem die Familie ihr Überleben verdankte.

Als Budapest 1945 unterging, erlebte der junge Schriftsteller einen Schaffensrausch; er schrieb „Mein Kamm“, die Geschichte einer totalitären Partei. Der Stern des Satirikers stieg, genau wie der der Sowjetmacht in Ungarn. Was ihn letztlich außer Landes trieb, erklärt er seinem Nachbarn: Der ungarische Bildungsminister habe ihn mit dem Auftrag geehrt, ein Musical über die führende Rolle der Arbeiterklasse zu schreiben.

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Auf einem guten Festival beginnen die Filme auch untereinander einen Dialog, etwa „Kishon“ mit „Remember Baghdad“ von Fiona Murphy, dem erschütternden Bericht über den Exodus der Juden aus dem Irak im vergangenen Jahrhundert. Dabei war das alte Babylon 1500 Jahre lang die eigentliche Mitte des Judentums. Im jungen Israel trafen die Ankömmlinge aus Bagdad auf die europäischen Juden, ähnlich befremdlich muss Kishon wohl die marokkanische Großfamilie empfunden haben, neben der er sich 1949 im Durchgangslager Maabara („Tor zur Heimat“) wiederfand. Er schrieb: „Der Neueinwanderer, der uns auf die Nerven geht“. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Toleranz, denn Toleranz heißt vor allem Leidensfähigkeit.

Jeder Mensch ist zuerst ein Fake, eine ungedeckte Behauptung, mehr ein Versprechen als ein Sein. So wie Hedy Lamarr aus Wien, Hollywood-Diva und Erfinderin, Vordenkerin des WLAN, der das Festival neben der sehenswerten Dokumentation „Geniale Göttin“ eine Filmreihe widmet. Oder Itzhak Perlman, dem Sohn eines polnischen Friseurs. Mit vier Jahren verlor er durch Kinderlähmung seine Füße und wurde dennoch zum Weltklassegeiger. Werde, der du bist! Mit dem Dokumentarfilm „Itzhak“ von Alison Chernick wird das jüdische Filmfestival am Dienstag eröffnet.

26.9. bis 5.7. Info: www.jfbb.de

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