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Die Gedenkstätte Ausschwitz-Birkenau. Romanfigur Schneidermann sprang den Nazis nur knapp von der Vernichtungsschaufel.

© dpa

Joshua Cohens Roman „Solo für Schneidermann“: Der Tod auf einer Satzlänge Abstand

Mit sinfonischer Sprachbravour erzählt der Amerikaner Joshua Cohen in seinem Roman „Solo für Schneidermann“ von der Freundschaft zweier Männer und der vernichtenden Kraft der europäischen Weltkriege.

Komponisten leben in der Musik der Töne, Schriftsteller in der Musik der Worte. Für beide ist die Stille nach ihrer Musik ein Horizont, hinter dem das Schweigen wartet – und möglicherweise die Dunkelheit des Todes. Joshua Cohens erster, in den USA 2007 erschienener Roman „Solo für Schneidermann“ schaut mit ehrfürchtigem Pathos auf diese Schweigehorizonte. Verklammert sind sie in dem Musiker-Sprecher Laster, „ein amerikanisch-deutsch-ungarisch-ruthenisch-ukrainischer Jude“, der ich-erzählend auf der Bühne der New Yorker Carnegie Hall diesen Roman aufführt.

Während eines Konzerts, in dem Laster das letzte Violinenstück seines Freundes, des Komponisten Schneidermann, zum Besten gibt, ist er nach dem ersten Satz des Werks mit seiner Kadenz an der Reihe, jener „Solopassage, in der ein Interpret seine Kunstfertigkeit zur Schau stellen soll“. Stattdessen bricht er ab, und die Stille, die folgt, füllt er mit einer atemlosen wie aberwitzigen, einer tollkühnen wie fast tollwütigen Sprachkadenz.

Wo das Schweigen als Vernichtung verstanden ist, muss der Sprecher weiterreden, um zu überleben. So lange Laster redet, lebt er, und er redet lange. Die „wilde Zäsur in seinem Konzert“ wird bis zum Morgen andauern; einiges Publikum verlässt den Saal, einige Sicherheitsleute, Polizisten und Nachrichtenkameras füllen ihn.

Ein masturbierendes Erfüllungsäffchen

Durch seinen Redeschwall hält Laster das Ende fern, hält den Tod immer auf einer Satzlänge Abstand. So bekommt der Roman eine flirrende Spannung, durch die Lasters Rede zum kaskadenartigen Tanz auf dem Vulkan wird, zum Totentanz, der jeden Moment am Rande des Nichts taumelt.

Wie das verbleibende Publikum hören auch die Leser diesem Romanmonolog zu, und es empfiehlt sich unbedingt, dieses Sprach- und Klangmeisterstück laut vorzulesen, um der Sinfonie der Cohenschen Sprachbravour zu lauschen, etwa wenn Laster einmal von sich und Schneidermann erzählt: „weil ich eine Interpretationsmaschine bin, eine Gedächtnismaschine, ich bin Schneidermanns zurückgebliebenes, masturbierendes Erfüllungsäffchen, ein Symbol mit Zimbeln, denn in meinem Leben ist nur eines geschehen: Musik“.

Joshua Cohen, 1980 als Nachfahr deutscher und ungarischer Juden in New Jersey geboren und aufgewachsen, hat an der Manhattan School of Music selbst Komposition studiert, die Hochschule jedoch ohne Abschluss verlassen. Sechs Jahre lang, bis 2007, lebte er als Osteuropakorrespondent des längst nicht mehr täglich erscheinenden „Jewish Daily Forward“ in Berlin. Wie schon bei Cohens vor zwei Jahren erschienenem Erzählband „Vier neue Nachrichten“ haben deutschsprachige Leser auch mit „Solo für Schneidermann“ nun das Glück, Cohen in der fulminanten, blühenden Prosa seines Übersetzers Ulrich Blumenbach zu lesen, der sich schon als Spezialist für David Foster Wallace („Unendlicher Spaß“) erwies. Für Schöffling & Co. wird Blumenbach in den nächsten Jahren auch die weiteren schon erschienenen Cohen-Bücher übersetzen.

„Der beste Arzt ist Selbstmord“

Obwohl Lasters Solostimme allein im Konzertsaal verhallt, erzählt das Buch vielstimmig von Lasters virtuosem und von Schneidermanns versehrtem Leben. Vom Überleben des großen, doch fast vergessenen Schneidermann, der den Nazi-Teufeln in Europa nur knapp von den Vernichtungsschaufeln sprang.

Im New Yorker Exil findet er in Laster erst einen begabten Zögling und dann einen sohnähnlichen Freund. „Solo für Schneidermann“ ist eine Ode an die Freundschaft, wie es eine Ode gegen den Tod ist. Denn obwohl Schneidermann – stets apostrophiert ihn Laster als „mein Schneidermann“ – vielleicht tot ist, so lange Laster redet, leben sie beide.

Seit über vierzig Jahren waren diese hochkulturellen Freunde jeden Nachmittag ins Kino gegangen, und schauten sich jeden noch so billigen Blockbuster an. Der schrullige Schneidermann, der meist während der Filmvorführungen Bücher las, erzählte nach den Filmen vom Wert der Kunst und dem Ende Europas, von der vernichtenden Kraft des europäischen Weltkrieges und dem bevorstehenden Aussterben der Hochkultur.

Als die beiden alten „Matineejunkies“ eine „Wiederaufführung zum zehnjährigen Jubiläum“ von Spielbergs „Schindlers Liste“ ansehen, steht Schneidermann mitten im Film auf, verlässt das Kino und ist verschwunden. Laster vermutet Suizid: „Schneidermann zu mir: Der beste Arzt ist Selbstmord". So ist die Stille, die Laster füllt, nicht bloß das Loch des Schweigens im Konzert, sondern auch die Wunde, die Schneidermann in Lasters Leben gelassen und den Sprecher selbst mit dem tiefsten Todeswunsch angesteckt hat. Zu seinen vielen Ex-Frauen und Kindern im Publikum klagt er bald: „Kinder, ich werde sterben. Ich möchte sterben. Frei und allein.“

Halb Ernst, halb Wahnsinn

Neben der tiefen Traurigkeit und der Vehemenz des Verlusts, die diesen Text durchdringen, kommt aber immer wieder Cohens exquisiter Sinn für Humor zum Vorschein, im absurden Sprachspiel („Affengutans und Schimprillas“) oder in der metaphorischen Stärke seiner Vergleiche („wie ein masturbierender Kolibri“).

Laster ist ein Talking Head, wie man ihn aus Samuel Becketts Romanen kennt, von Satz zu Satz schwingend und Figur wie Plot durch schiere Sprachgelenkigkeit aushebelnd. Er ist ein Verwandter der Monomanen in Thomas Bernhards Prosa, die kulturpessimistisch von sich und aus zweiter Hand berichten. Und wie die Ur-Ahnin dieser Sprechköpfe, die Torheit des Erasmus, ist Lasters Sprechakt halb ernst und halb wahnsinnig, ein spielerisches Sprachrohr, das immer involviert und distanziert ist.

Dieser Kniff erlaubt, selbst verschrobene und verkürzende Vorstellungen faszinierend auszustellen, wie Schneidermanns einstige platonische Idee der Zweckfreiheit der Kunst, die er mit dem Stachel der Geschichte durchbohrt, wenn er sagt, dass „Musik der Jude der Kunst ist, weil der Jude, er ist die Musik der Menschheit: da und einfach nur da, erfüllt überhaupt keinen Zweck, nicht den geringsten, aber noch da.“

Unter der Schwarzmalerei steckt Hoffnung

Wie bei Beckett ist auch bei Cohen beides echt: Witz und Schmerz, manchmal in nur einem Satz: „Weil jeder, der den Holocaust überlebt hat, in den nächsten zwanzig Jahren sterben wird (und danach haben wir dann nur noch die amerikanische Filmindustrie).“ Und wie bei Bernhard schwebt unter der Schwarzmalerei nicht nur Verzweiflung, sondern manchmal auch Hoffnung, wie darüber, „dass Schneidermann schließlich sämtliche Musik kannte und dass darüber hinaus und wichtiger noch der Moment oder die Momente der Stille nach der Musik einem Mann nichts bedeuten oder bedeuteten, in dem die Musik lebte.“ Bravo!

Joshua Cohen: Solo für Schneidermann. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2016. 536 Seiten, 26 €.

Jan Wilm

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