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Der Turban war eine Zeit lang ihr modisches Markenzeichen: Opernstar Jessye Norman.

© dpa

Jessye Norman ist tot: Wogender Wohlklang

Primadonna des Pianissimo: Die große afroamerikanische Sängerin Jessye Norman ist im Alter von 74 Jahren gestorben.

Ihre Karriere begann im Dezember 1969 in Berlin, an der Deutschen Oper, mit der Partie der Elisabeth in Richard Wagners "Tannhäuser". In dieser Rolle hatte sie im Jahr zuvor schon die Jury beim ARD-Wettbewerb umgehauen. Und bald schon schwärmte die ganze Welt von dieser unglaublichen Stimme. Einer Opernstimme, die keine Grenzen zu kennen schien: Wonnen des Wohlklangs in der Tiefe, flutende Fülle in der Mittellage, leicht ansprechende Höhe. Jessye Norman war eine von der Natur Gesegnete - und bereit, ihre Gaben dankbar anzunehmen, ihre künstlerischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen.

Sie wurde 1945 im US-Bundessstaat Georgia in eine musikbegeisterte Familie hineingeboren, ihre Mutter war eine gute Amateurpianistin, im Haus der Großeltern beeindruckte sie das große Harmonium. Als Jugendliche begeistert sie sich für Gospel, singt in verschiedenen Ensembles. Ihr außergewöhnliches Talent fällt auf, die Chorleiter drängen sie, Gesang zu studieren. Und Jessye Norman hat Glück: Ihre ersten Lehrerin Carolyn Grant legt höchsten Wert auf genaue Artikulation, Pierre Bernac führt sie später ein in die Welt des französischen Kunstlieds.

Jessye Norman ist also bestens vorbereitet - und sie hat nicht nur ein Gespür dafür, was ihrer Stimme gut tut, sondern auch den Mut, "Nein" zu sagen. All den Intendanten und Dirigenten nämlich, die sie - berauscht von Normans vokalem Potenzial - zu früh zu dramatischen Rollen verführen wollen. Sehr genau wählt sie aus, was sie singen will, was aber nicht zur stilistischen Schmalspurigkeit führt. Enorm, ja geradezu verblüffend ist die Vielfalt ihrer Rollen. Sie reicht vom 18. Jahrhundert bis in die Moderne, die unglückliche Dido hat sie sowohl in Henry Purcells frühbarocker Oper gesungen als auch in Hector Berlioz romantischer Vertonung der "Aeneis". Jessye Norman hat als Haydns "Armida", als Webers "Euryanthe" und auch als Emilia Marty in Janaceks "Die Sache Markropoulos" geglänzt.

Unter Claudio Abbado ist sie 1972 in Berlin die Titelheldin in Verdis "Aida", aber die schweren, fordernden Rollen des Italieners meidet sie. Und sie macht sich auf den Bühnen rar, nicht nur wegen ihrer Leibesfülle, die sie an großer szenischer Aktion hindert. Jessye Norman fokussiert sich auf Konzerte. Und wird zur Studio-Künstlerin, nimmt dort wichtige Partien von Richard Strauss auf, Beethovens "Fidelio" und sogar Bizets "Carmen".

Den größten dnkbaren Auftritt hatte sie 1989 in Paris

Der Höhepunkt des Starkults um Jessye Norman ist 1989 erreicht, als sie, in eine Trikolore gehüllt, bei den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der französischen Revolution auf der Pariser Place de la Concorde die Marseillaise singt. Ein gigantischerer Auftritt ist kaum denkbar. Und die Puristen rümpfen natürlich die Nase darüber. Denn sie schätzen die Sängerin nun einmal als Primadonna des Pianissimo, als Diva der Details.

Stimmfetischisten begeistert sie mit ihren Liederabenden noch mehr als mit ihren Opernauftritten. Als "bedeutendste Konzertsängerin" bezeichnet sie Jens Malte Fischer und nennt ihre Interpretation von Ernest Chaussons Tondichtung "Poème de l'amour et de la mer" eine "Jahrhundertaufnahme". Jürgen Kesting schwärmt von ihrer "überwältigenden Atemtechnik", von "schier endlosen Bögen" und fragt rhetorisch: "Gibt es eine Sängerin, die die "Vier letzten Lieder" von Richard Strauss derart generös entfaltet hat?"

Diese Diva war nahbar, voller Herzlichkeit

Zu einem geradezu skulpturalen Ereignis wird Schönbergs Monodram "Erwartung" 1995 bei den Salzburger Festspielen: Robert Wilsons symbolistische Regie und sein magisches Lichtdesign ermöglichen Jessye Norman, bei minimalem gestischem Aufwand ein Maximum an musikalischer Aura zu entfalten. Wer diese Stimme zu beschreiben suchte, verfiel fast automatische in Superlative oder überbordende Rhetorik: Da wurde die glühende Leuchtkraft von Rubinen beschworen, der verschwenderischer Reichtum der Klangfarben.

Über Jahrzehnte war jeder Auftritt von Jessye Norman ein Ereignis - weil es eben auch stets nur wenige davon gab. Doch das Leiden ihrer Fans, die sich natürlich mehr Live-Erlebnisse gewünscht hätten, vermochte die Sängerin immer wieder mit ihrer grenzenlosen Freundlichkeit, ihrer umarmende Herzlichkeit zu mildern. Und sie hat sich nie im Elfenbeinturm verkapselt, hat gegen Armut und Obdachlosigkeit gekämpft, auf Rassismus im Alltag wie im Opernbusiness hingewiesen. Zuletzt arbeitete sie an einem Projekt zu Ehren von Sissieretta Jones, die 1893 als erste afroamerikanische Sängerin in der New Yorker Carnegie Hall auftreten war.

Durch Multiorganversagen infolge von Komplikationen nach einer Rückenmarksverletzung, die sie 2015 erlitten hatte, ist Jessye Norman jetzt im Alter von 74 Jahren gestorben.

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