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Die US-Schriftstellerin Ann Petry (1908-1997) arbeitete in New York auch als Journalistin.

© Carl Van Vechten/Yale Collection of American Literature

Harlem-Roman von Ann Petry: Jeder Tag ist ein Kampf

Ann Petrys Harlem-Roman „The Street“ kam 1946 heraus und erscheint jetzt in neuer Übersetzung. Das Buch ist auf bedrückende Weise gegenwärtig.

Man muss bei der Lektüre dieses Romans der 1997 verstorbenen Schriftstellerin Ann Petry unweigerlich an Bobby Womacks Song „Across 110th Street“ und den gleichnamigen Blaxploitation-Film aus dem Jahr 1972 unter anderem mit Anthony Quinn in einer der Hauptrollen denken.

„Trying to break out of the ghetto was a day to day fight“, singt Womack unter anderem. Oder: „You’ve got to be strong, if you want to survive“.

Petry war die erste Afroamerikanerin, die einen solchen Roman schrieb

Nur ist Ann Petrys Harlem-Roman „The Street“ um einige Jahrzehnte älter. (Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Nagel und Kimche Verlag, Zürich 2020 384 S., 24 €.) Er wurde 1946 veröffentlicht und spielt zwei Jahre zuvor, nicht in der 110ten Straße in Harlem, sondern ein paar Straßen nördlicher, in der 116ten.

Wichtiger jedoch ist die weibliche Perspektive. In der Tradition von Richard Wright stehend, der mit Büchern wie „Native Son“ oder „Black Boy“ die Vorlagen aus der Sicht eines schwarzen Mannes gegeben hatte, war Petry die erste afroamerikanische Autorin, die einen Roman wie diesen schrieb: über die Lebensverhältnisse in einem ausschließlich von Schwarzen bewohnten Viertel, das Womack ein Vierteljahrhundert zuvor als „the capital of every ghetto town“ bezeichnen sollte.

Petry wurde 1908 in Old Saybrook, Connecticut geboren, stammt aus einer Apothekerfamilie, also aus vergleichsweise bürgerlichen Verhältnissen, und wuchs in einer ausschließlich weißen Umgebung auf.

Erst 1938 kam sie wegen der Liebe nach New York, wo sie in Harlem nicht nur Schlüsselkinder nach der Schule betreute, sondern auch journalistisch arbeitete und Kurzgeschichten schrieb. „The Street“, ihr Debütroman, ist aus einer solchen entstanden.

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Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Lutie Johnson und ihres acht Jahre alten Sohnes Bubb. Lutie hat gerade ihren Mann Jim verlassen, weil der sie mit einer anderen Frau betrügt, und nun in der 116ten Straße eine Wohnung gefunden, gelegen unter dem Dach einer typischen Harlemer Mietskaserne: mit drei „beklemmend winzigen Zimmern“, so klein, dass die ganze Wohnung „bequem in ein einziges, halbwegs geräumiges Zimmer passen“ würde.

Lutie kämpft tagtäglich, um sich und ihren Sohn durchzubringen, arbeitet von morgens bis abends in einem Büro, dreht jeden Cent um und träumt davon, bald in einem anderen, weitläufigeren, grünen Viertel von New York leben zu können.

Rassismus und Sexismus sind allgegenwärtig

Ihre Chancen jedoch stehen schlecht, die Straße, ihre Nachbarschaft, der strukturelle Rassismus und der allgegenwärtige Sexismus lassen ihr keinen Spielraum. Lutie erinnert sich, wie sie mit Jim daran gescheitert ist, mit fünf Pflegekindern in Queens ein halbwegs bürgerlich-ertragreiches Leben zu führen. Oder was ihr bei einer Haushälterinnenstelle auf dem Land widerfuhr.

Hier hatte sie unter den Weißen stets das Gefühl, von einer Mauer umgeben zu sein. Und nicht nur das: „War eine Frau dunkelhäutig und jung, tja, dann war sie ein Flittchen, ganz klar. Und wenn nicht, dann jedenfalls leicht rumzukriegen, einfach auf Nachfrage.

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Nach und nach führt Petry andere Figuren ihres Roman ein und beginnt die Verhältnisse auch mit deren Augen zu betrachten. Mit denen des zwielichtig-irren Hausmeisters Jones, seiner Partnerin Min, der Bordellbetreiberin Mrs. Hedges, des Musikers und Hustlers Boots und nicht zuletzt mit denen von Bubb.

Dieser wird eines Tages von Jones dazu verführt, Post zu stehlen, was schließlich der Anfang des dramatischen Romanendes mit einem Totschlag in der Wohnung von Boots ist.

Die Protagonistin Lutie ist sich ihrer Machtlosigkeit bewusst

Auf der Oberfläche wirken viele Figuren dieses Romans etwas holzschnittartig, sind sie bloße Stereotypen. Doch Petry lässt sie nach und nach sich entfalten: ob das der böse Hausmeister ist, dem sie einige Zwischentöne entlockt, oder die zunächst träge Min, die sich irgendwann von ihm emanzipiert.

Empathie hat Petry für sie alle, selbst für Boots und seinen weißen Chef, den Barbesitzer und Immobilienhändler Junto. Allemal natürlich für Lutie, die sehr reflektiert, emanzipativ bestrebt und sich ihrer Machtlosigkeit angesichts der Lebensbedingungen nur allzu bewusst ist.

Die enge der Wohnungen treibt die Menschen nach draußen

Manches wirkt redundant, so wie die häufig in Szene gesetzten engen Wohnungen. Doch sind diese es ja, die die Leute nach draußen treiben.

Die Hauptfigur dieses Romans ist letztendlich die Straße: vom Wind der durch die Schluchten der Häuser fegt bis hin zu Jones oder Mrs. Hedges, die die Straße immer im Blick haben, sowie den vielen anderen: „Sie standen an den Ecken und schwatzten, sie lümmelten in Hauseingängen und auf Vortreppen, beobachteten das Treiben ringsum und schwatzten.“

Auch wenn es zunächst den Anschein hat, lässt Petry den Zweiten Weltkrieg nicht außen vor. Er hat zwar auf das sowieso harte Leben in Harlem nur wenig Einfluss. Aber irgendwann ist einmal vom „Krieg der Weißen“ die Rede; oder man erfährt, dass Boots sich der Einberufung entzogen hat, durch einen gezielten ärztlichen Eingriff an seinen Ohren: „Erzählen Sie mir nichts von den Deutschen“, sagt er einmal zu Junto. „Die tun in Europa bloß, was man in diesem Land von Anfang an gemacht hat.“

Die erste deutsche Übersetzung blieb in den Achtzigern ohne Widerhall

Ann Petrys Roman ist vielschichtiger, als seine konventionelle Erzählweise und sein Sozialrealismus erwarten lassen. Selbst Spuren des roman noir gibt es, so wie der Plot sich entwickelt. In den Jahren nach dem Krieg schien die Zeit reif für den Roman einer schwarzen Autorin mit primär weiblicher Perspektive: „The Street“ ist preisgekrönt, kam zu diversen Auflagen und verkaufte sich anderthalb Millionen Mal.

So gut, wie die Geschichte sich liest – eine erste deutsche Übersetzung hatte es 1982 ohne größeren Widerhall gegeben – so gegenwärtig-aktuell wirkt sie. Weder Bobby Womacks siebziger Jahre noch die Zeit unter Obama sind über „The Street“ hinweggegangen. Das zeigen die aktuellen Bilder und Berichte aus den USA über die Pandemie: Die schwarze Bevölkerung ist viel härter betroffen, allein ihrer oft prekären Lebensverhältnisse wegen.

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