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Das Kolosseum im September 2019 mit Kinderzeichnungen für den Frieden.

© AFP/ANDREAS SOLARO

Italien im Herbst: Das Pflaster von Rom

Schlaglöcher, leere Kassen, Erinnerungslücken: Impressionen aus einer Stadt, in der nichts Neues geschieht und das Alte verfällt.

Als im Mai 2018 der Koalitionsvertrag zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsextremistischen Lega veröffentlicht wurde, trat der künftige Innenminister Matteo Salvini vor die italienische Presse und sagte zu aller Verblüffung: „Wenigstens gibt es da, wo ich bin, keine Löcher.“

Er sprach nicht von den Löchern im Budget, sondern von den Löchern in den Straßen Roms. Die lokalen Reporter trauten ihren Ohren nicht. In Rom, dessen Straßen von Unebenheiten, Wannen, Vertiefungen und Spalten strotzen, sollte es keine Löcher geben?

Hatte der Realpolitiker seinen Sinn für die Realität verloren? War ihm der erträumte Ministerposten, der ihm eine schier unermessliche Macht über alle Geheimdienste und Polizeikräfte Italiens in die Hand gab, zu Kopf gestiegen? Oder wollte sich Salvini, der Rom verächtlich „die große Diebin“ genannt hatte (als seine Lega noch Lega Nord hieß und er Italien in zwei unabhängige Staaten, einen reichen Norden und einen armen Süden, zerlegen wollte), bei den Bewohnern der Hauptstadt anschmieren?

Wenige Tage später rückte der Sieger des Giro d'Italia Christopher Froome die Sache mit den Löchern wieder zurecht, und zwar nicht nur für die römische und italienische, sondern gleich für die ganze Weltöffentlichkeit. Er zwang die Rennleitung, die auf zwölf Runden angesetzte Schlussetappe der Italienrundfahrt nach der vierten Runde zu „neutralisieren“, da die Fahrer sich weigerten, auf den holprigen Straßen Roms ihr Leben zu riskieren. Andernfalls würden sie vor dem Kolosseum vom Rad steigen und ihre Räder zu Fuß über die Ziellinie schieben.

Die Straßenreparatur wurde so lange wie möglich verschoben

Unglaublich! Rom war nicht imstande, das seit Monaten vorgesehene Rennen korrekt zu organisieren. In der „New York Times“ und „Le Monde“ war nun ausführlich von den Löchern und Fallen in den Straßen Roms die Rede. Infolgedessen wurden sie auch in Rom Tagesgespräch. Wie konnte das passieren? Das Rathaus wusste seit Monaten Bescheid, hatte enthusiastisch das Angebot, die Schlussetappe des Giro zu organisieren, angenommen, der Rundkurs sollte in Mondovision an allen spektakulären Bauwerken der Stadt vorbeiführen – und dann dieses beschämende Ende!

Sofort forderten alle Oppositionsparteien den Rücktritt der Fünf-Sterne-Bürgermeisterin Virginia Raggi, die nicht im Traum daran dachte. Die Vorgeschichte dieser kapitalen Fehlorganisation, die am Tag nach dem Fiasko in einer römischen Zeitung aufgerollt wurde, war noch niederschmetternder als der Skandal selbst.

Die Stadt hatte dem „Messaggero“ zufolge die Straßen, durch die die Rundfahrt führte, nicht rechtzeitig repariert, weil sie befürchtete, dass die Unebenheiten und Löcher kurz nach der Reparatur wieder aufbrechen würden. Deshalb hatte sie die Reparaturarbeiten so lange wie möglich verschoben, zu lange, sie begannen überstürzt und desorganisiert eine Woche vor dem vereinbarten Termin. Sollte es in Italien keine Straßenbauunternehmen geben, das die Brüche im Asphalt und die Löcher im Pflaster kunstgerecht reparieren kann? fragte ungläubig der „Messaggero“.

Natürlich gab es sie, antwortete er, aber wer erhält die Aufträge? Der neugierige Reporter, der dieser Frage nachspürt, sollte sich vorher eine kugelsichere Weste kaufen.

Der ehemalige Bürgermeister wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt

Die mafiösen Verstrickungen der Straßenbau-Firmen sind stadtbekannt. Zwischen ihnen und den höchsten Instanzen Roms spannt sich ein Netz von institutioneller Korruption, das im „Maxi-Prozess“ Mafia Capitale ausführlich zur Sprache kam und dem ehemaligen Bürgermeister Gianni Alemanno (2008-2013) im Februar 2019 eine sechsjährige Gefängnisstrafe einbrachte. Der Bürgermeister, der nach ihm kam, Ignazio Marino, versuchte konsequent, die Straßenbaufirmen dazu zu zwingen, eine Fünf-Jahres-Garantie zu unterschreiben. Wie zufällig wurde er Opfer einer systematischen Verleumdungskampagne, an der auch der Vatikan partizipierte, da Marino homosexuelle Ehen im römischen Rathaus schloss. Mafia und Kirche, das war ein Feind zu viel.

Seither haben sich die Dinge verschlimmert. Virginia Raggi, im Juni 2016 als erste Frau zur Bürgermeisterin Roms gewählt, hat statt der 250 Millionen Euro, die sie bräuchte, um die gefährlichsten Löcher zu stopfen, nur 30 Millionen im Jahr zur Verfügung, da Rom mit seinen zwölf Milliarden Euro Schulden praktisch bankrott ist. Wirtschaftsminister Tria, ein Freund Salvinis, dachte nicht daran, der politischen Gegnerin von der Fünf-Sterne-Bewegung aus der Patsche zu helfen, und sperrte ihr die versprochenen 180 Millionen staatlichen Zuschuss für die römische Infrastruktur.

Die Unfallrate im Straßenverkehr ist haarsträubend

Das vorhersehbare Chaos im Straßenverkehr spielte Salvini in die Hände. Je mehr Radachsen brechen, Reifen platzen, je mehr Zweiradfahrer sich die Köpfe einrammen, desto größer die Chancen seiner Lega, den nächsten Bürgermeister zu stellen und Raggi zu versenken. Die Unfallrate im Straßenverkehr ist haarsträubend. Auf den Schnellstraßen am Stadtrand fahren die Autofahrer Slalom, um den lebensgefährlichen Löchern zu entgehen, und auf das Rathaus kommt seitens der Motorradfahrer eine Lawine von Prozessen zu.

Dabei war die noch nicht lange zurückliegende Asphaltierung der römischen Straßen eine Antwort auf die angebliche Gefährlichkeit des historischen Straßenbelags und sollte endlich Sicherheit und Ruhe in den Verkehr bringen. Aber der seit Jahren versprochene „asfalto magico“, der hart und geräuschlos sein soll, lässt auf sich warten, und den in Rom herrschenden Fünf-Sternen fällt ein Stern nach dem andern aus der Krone.

Niemand nimmt sie wahr, niemand würdigt sie eines Blicks, weder der Tourist mit dem Kopf im Reiseführer oder vorm Handy noch der echte Römer, niemand ahnt, wie schön sie einmal waren und an verborgenen Stellen immer noch sind: die Pflastersteine, die Proleten unter den Kunstschätzen Roms. Ineinander verkeilt und verkrümmt, haben sich Zigarettenstummel in ihnen eingenistet, wölben sie sich zu Buckeln, wächst das Moos aus ihnen heraus.

Eine vatikanische Intervention brachte 1725 Linderung

An ihnen nagt der Novemberregen, die Julihitze, aber statt sie zu ersetzen, übergießt man sie mit Teer. Eine Fahrt über die Piazza Venezia gleicht einem Rodeo auf dem Rücken eines wilden Stiers, und das wogende Steinmeer der berühmten Via Giulia durchquert man am besten im Seemannsgang.

Und doch war dieses Pflaster einst der Stolz Roms. „Sanpietrini“, Sanktpeterchen, nannte man sie ihrer Herkunft wegen. Als 1725 die Kutsche des Papstes in einem Schlagloch vor dem Petersdom fast umgestürzt wäre, beschloss der Direktor der vatikanischen Werkstätten Ludovico Sergardi, den Petersplatz und kurz darauf 120 weitere Hauptstraßen Roms mit dem schwarzen Vulkanstein aus Viterbo zu pflastern, sodass von nun an alle Kutschen, Karren und Karossen gefahrlos die Hauptstadt durchqueren konnten. Der neue Straßenbelag hatte unerwartete Vorteile. Auf Sand verlegt und nicht zugemörtelt, passte er sich harmonisch dem unregelmäßigen Verlauf der römischen Straßen an, ließ wie ein eigenes Kanalsystem das Regenwasser abfließen und bildete, von kunstfertigen Händen verlegt, die schönsten mosaikartigen Formen: Regenbögen, Fischgräten, Pfauenschwänze.

Asphalt statt Basaltstein entschied Bürgermeister Walter Veltroni

Der Dichter und Filmregisseur Pasolini verglich ihre „bescheidene Schönheit“ mit jener der italienischen Volkslieder im Vergleich zu den Versen Dantes oder Petrarcas. Man müsse sie mit gleicher Leidenschaft verteidigen.

Aber seit bald fünfzehn Jahren führt das Pflaster von Rom ein verzweifeltes Rückzugsgefecht und hat sich in die engen Straßen des historischen Zentrums zurückgezogen. Als Bürgermeister Walter Veltroni 2005 entschied, zwei Millionen Basaltsteine aus dem sandigen Bett der römischen Hauptverkehrsstraßen zu reißen und durch schnöden Asphalt zu ersetzen, ging ein Aufschrei durch einen Teil der Bürgerschaft Roms, für die der historische Straßenbelag ein unverzichtbares Symbol der ewigen Stadt war.

Dem Aufschrei folgte ein nicht minder lauter Freudenschrei, denn die Auto- und Motorradfahrer waren erleichtert, diesem bei Regen wie Seife glitschigen Untergrund zu entkommen, der überdies die Vibrationen der Busse und Lastwagen an die umliegenden Häuser weitergab und die Fresken von den Wänden der alten Paläste schüttelte. Das sei nicht die Schuld der Sanpietrini, protestierten namhafte römische Architekten, sondern das Ergebnis ihrer Verwahrlosung. Würde man sie instand halten, wären sie so stabil wie das Pflaster auf den Champs-Elysées, auf dem unzählige Autos verkehren und die Tour de France problemlos zu Ende gefahren wird.

Auf den ersten Blick schien es ein Streit zwischen Alt und Neu, Nützlichkeit und Schönheit zu sein, aber der brüchige Asphalt ist nicht nützlich und das überteerte Pflaster nicht schön. Das Alte zerfällt, und das Neue kommt beschädigt auf die Welt.

Die Staatsverschuldung nahm um 50 Milliarden zu

Hatte Salvini in seinem Machtrausch keine Löcher in den Straßen Roms gesehen, so sind die Löcher im Budget unübersehbar: Die Staatsverschuldung nahm um 50 Milliarden zu, das Wachstum lag bei null, Perspektiven gibt es keine. Und doch hätte er, würde heute gewählt, großen Zulauf. Sein Vorhaben, allein zu regieren, ist keine Illusion. Denn es gibt in Italien eine noch gefährlichere Art von Löchern: die kollektiven Löcher im Gedächtnis.

Papst Franziskus warnte Anfang August vor „Reden, die denen Hitlers ähneln“, und meinte die Hasstiraden Salvinis gegen die Lebensretter im Mittelmeer, gegen Sinti und Roma, gegen Deutschland und Frankreich, gegen Muslime und Afrikaner, gegen die Idee des vereinten Europa – Reden, die großen Widerhall finden, da Fremdenhass eine deprimierend wirkungsvolle Droge ist, die zentrale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Korruption, Mafia eine trügerische Zeit lang vergessen lässt.

Ansonsten sind die Italiener der Politik müde. Ihre Herzlichkeit steht in einem schreienden Kontrast zu ihrer politischen Unberechenbarkeit. Erst hatte Berlusconi ihr Rechtsgefühl mit Füßen getreten, dann peitschte sie Salvini, den Rosenkranz schwingend, wieder auf, und die regierenden Fünf-Sterne, die Anfang September ihren Koalitionspartner tauschten (sozialdemokratische PD gegen rechtsextreme Lega), haben sie ohnehin nur aus Misstrauen gegen die alten Parteien gewählt. Sie verachten ihren Staat. Aber sie sind Teil des Unglücks, denn sie lassen ihn verkommen.

Die Löcher als Sinnbild einer chaotischen, resignierten Gesellschaft

Rom ist ein Dandy in zerrissenen Kleidern von einst erlesener Kostbarkeit. Sie sind von Flicken übersät, doch ihre Schönheit ist unverwüstlich. Der Dandy ist ein Melancholiker, der uns gute Laune vorspielt, aber zutiefst unglücklich ist. Seine gute Laune ist ein Zeichen von Eleganz. Er will uns nicht belästigen.

„Man braucht Geduld“, sage ich seufzend zu meinem Nachbarn in der Meldestelle. „Von Geburt an“, antwortet er. Er ist Fatalist und hat sich nach zweitausend Jahren Tyrannen und Autokraten (Nero, Caligula, Mussolini, Andreotti, Berlusconi) für die totale Bewegungslosigkeit entschieden. Die Möwen scheißen ihm auf den Kopf, er verstaucht sich das Bein im Pflaster, er lächelt. Die Professoren kommen zu spät zur Vorlesung, die Busse kommen zu spät zur Haltestelle, in den Hospitälern wartet er fünf Stunden lang auf den Arzt, auf den Plätzen vermodert der Müll, er regt sich nicht auf, er rebelliert nicht. Die Löcher in den römischen Straßen sind das Sinnbild einer chaotischen, resignierten Gesellschaft.

Das Alte geht unter, das Neue wird im Keime erstickt

Rom ist eine Stadt, in der nichts Neues geschieht und die das Alte verfallen lässt. Die Bewohner sind ihrem Erbe nicht dankbar, obschon es sie ernährt, mit Millionen Touristen, Pilgern, Subventionen, staatlichen Zuschüssen, Mäzenen. Sie vernachlässigen es, verschleudern es. Es fällt nicht auf, weil Rom überreich an Schönheiten ist, aber weil das Schöne immer verschwenderisch ist, glaubt man zu Unrecht, es sei auch unerschöpflich.

Das Alte geht unter, und das Neue wird im Keime erstickt. Vor fünf Jahren brannte das Depot der kleinen elektrischen Busse nieder, die die engen Straßen des historischen Zentrums befuhren, kurz nachdem man sie eingeführt hatte.

Wem machten sie Konkurrenz? Wem waren sie ein Dorn im Auge? Der Gewerkschaft? Der lokalen Mafia ? Man weiß es nicht. Nur die Löcher werden größer, sie fressen alles auf, die Wirtschaft, die Zukunft, die Hoffnungen, nur die gute Laune nicht, nicht den Espresso in der Bar noch die bezaubernde Spiegelung des Himmels im Pflaster, wenn der Abend kommt.

Benjamin Korn

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