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Die Schriftstellerin Isabelle Lehn, Jahrgang 1979.

© A. Sophron / Fischer Verlag

Isabelle Lehns Roman „Frühlingserwachen“: Vom Körper betrogen

Scheitern und Schriftstellerin werden: Isabelle Lehns Roman „Frühlingserwachen“ über eine Frau in der Schreibkrise.

Der Körper schwitzt, blutet und ist des Antriebes müde – besonders im Frühling. Dann, wenn draußen alles aufblüht und die Tage länger werden, stellt sich der Hormonhaushalt um. Drei Mal muss die Protagonistin Isabelle Lehn in Isabelle Lehns' Roman „Frühlingserwachen“ diese anstrengende Jahreszeit durchleben. Stellenweise liebäugelt sie damit, sich zu suizidieren, denn ihr Körper lässt sich von Tabletten und Therapie nur bedingt beeindrucken: „Ich werde verrückt in diesem Körpergefängnis“, klagt sie.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind das leise tickende Metronom dieses Romans über eine Frau in der Schreibkrise und mit noch so einigen anderen Problemen. Tick, tack, die Zeit ist knapp: Kinderkriegen, obwohl der Körper sich weigert, erfolgreich publizieren und glücklich in der Beziehung sein. Wenn die Erwartungen so hoch sind, dann schmerzt das Scheitern noch viel mehr.

Es scheint so, als gäbe es bestechende Ähnlichkeiten zwischen der 1979 in Bonn geborenen und in Leipzig am Literaturinstitut lehrenden Autorin Isabelle Lehn und ihrer zu Beginn des Buches 36 Jahre alten Hauptfigur: Sie beide tragen denselben Namen, sind promoviert und Schriftstellerinnen. Gleichzeitig wird die Leserin mit vorsorglichen Sätzen wie „Ich schreibe in der ersten Person, aber auch ‚ich' ist nur ein zweckmäßiges Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt (schreibt Virginia Woolf)“ angehalten, diesen Ähnlichkeiten nicht über den Weg zu trauen.

Schonungslose Distanz selbst bei intimsten Beichten

Bereits in ihrem Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“, der vor drei Jahren veröffentlicht wurde, war das Spiel mit Identitäten Gegenstand der Erzählung. Der Protagonist dieses Romans schlüpft in einer Kriegssimulation in die Rolle des Zivilisten Aladdin („Civilian on the Battlefield“). Danach hat er Mühe, sich Aladdins wieder zu entledigen. Immer wieder kippt seine Wahrnehmung in die Scheinwirklichkeit zurück, was sich im bewussten Einsatz der Pronomen „er“, „ich“ und „Aladdin“ zeigt.

In „Frühlingserwachen“ führt Isabelle Lehn dieses literarische Kippspiel fort und spielt dabei gleich mehrere Rollen. Das Prinzip, die eigene Person zu fiktionalisieren, kann leicht zu einer reinen Nabelschau geraten. Gegen die Narzissmus-Falle hat sich die Autorin jedoch gewappnet. Immer wieder brechen mit Bedacht und Witz komponierte Störmanöver in die Erzählung ein.

Da gibt es zum Beispiel die Ich-Erzählerin, die selbst bei den intimsten Beichten durch ihren tragisch-komischen Humor eine schonungslose Distanz zur Protagonistin schafft: „Ich bekomme auch graue Schamhaare. Es sieht wie angeschimmelt aus, es muss ein Irrtum sein, und ich fühle mich von meinem Körper betrogen.“

Ironisches Kreiseln um das eigene Selbst

Etwas Grausames hat das ja, dieses inszenierte Scheitern, und dabei geht es um mehr als die Metafiktionsspiele. So befreit Isabelle Lehn die künstliche Befruchtung, ein noch immer schambehaftetes Thema, aus ihrem Korsett. Die sich wiederholende Schleife einer In-vitro-Fertilisation kann für Frauen zu einer wahren Hölle werden, sollten die Versuche immer wieder scheitern: „Wann ist es der letzte Versuch? Wenn man kein Geld mehr hat? Wenn die Freunde immer weniger werden? Oder erst, wenn man selbst nicht mehr kann?“ Die Referenz auf das fast gleichnamige Drama von Frank Wedekind, „Frühlings Erwachen“, und dessen verzweifelte jugendlichen Figuren ist hier kein Zufall. Isabelle Lehns Heldin hat das Leben noch vor sich, und eng gekoppelt an den unerfüllten Kinderwunsch bleibt das Erwachsensein für sie ein Fremdkörper.

Zahlreiche Figuren und Zitate von Autorinnen begleiten Isabelle Lehn im dauerhaften ironischen Kreiseln um das eigene Selbst. „Wie würdest du heißen wollen, wenn ich über dich schreibe?“ – die Figuren dürfen sich ihre Romancharakteristika selbst aussuchen, und wenn die Ich-Erzählerin an den Entwürfen modelliert, ist die Leserin live dabei. Das erinnert an Prozesskunst, ein unvollendetes Werk, bei dem alle mitmachen dürfen – aber selbst das ist nur Schein.

Ein bisschen Verwirrung kann die Leserin vertragen

Eine gelungene literarische Selbstdarstellung schreiben? Man müsse nur das Geschlecht der Figuren ändern, um die realen Personen zu schützen, rät ein Autor bei einer Literaturkonferenz. Die Ich-Erzählerin wendet das Prinzip an und führt es so ad absurdum: „Am nächsten Tag probiere ich es aus. Es ist nicht mehr mein Vater, es ist meine Mutter, die zum Jahreswechsel in Rente gehen will. Es ist nicht mehr mein Vater, es ist meine Mutter, die ihr Leben lang gearbeitet hat, eine typische westdeutsche Alleinverdienerinnen-Biographie".

Ein cleverer Coup von Isabelle Lehn: In ihrem Roman „Frühlingserwachen“ geht es um die Entstehung eines Romans, in dem überraschenderweise auch die Leserin über sich selbst so einiges liest. „Meine Lektorin überlegt, ob das Manuskript einen Gattungsbegriff braucht. Sie glaubt, Roman würde den Leser verwirren." Die Protagonistin hingegen findet, dass die Leserin ein bisschen Verwirrung vertragen könne. Am Ende blitzt wieder ein wenig Frank Wedekind auf: Wie der vermummte Herr in „Frühlings Erwachen“ holt ein unbekannter Mann die Protagonistin ins Leben zurück. Obwohl es wieder nach Frühling stinkt und der Körper heftig schwitzt, gibt sie zu: „Insgeheim hänge ich am Leben.“ Aus diesem Leben hat die Autorin Literatur geschrieben.

Isabelle Lehn: Frühlingserwachen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 256 Seiten, 21 €.

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