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Ob wohl das andere Auge schläft? Selbstbeobachtung ist nur ein Hindernis auf dem erfolgreichen Weg durch die Nacht.

© Getty Images/iStockphoto

Insomnie: Vom Schlafen träumen

Der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić und der norwegische Autor Anders Bortne erforschen das Geheimnis durchwachter Nächte.

Von Gregor Dotzauer

Unter allen irdischen Höllen, die nicht unmittelbar auf die Gesellschaft anderer Menschen zurückgehen, ist Schlaflosigkeit die zermürbendste. Keine fordert eine vollständigere Unterwerfung unter ihr grausames Gesetz, keine arbeitet mit unsichtbareren Mitteln. Lasst, die Ihr hier eintretet, alle Hoffnung fahren: Wer sich nicht an diesen Rat hält, der in Dantes „Göttlicher Komödie“ das Tor zum Inferno schmückt, wird ihren Schrecken doppelt unnachsichtig ausgesetzt sein.

Schlaflosigkeit kann eine vorübergehende Störung sein, die sich mit den richtigen Mitteln bekämpfen lässt. In den Drogeriemärkten stehen Tonnen von Baldrian und Passionsblumenextrakten sowie Hektoliter von Melatonin, vor denen sie die Waffen strecken soll. Durchwachte Nächte, wird suggeriert, sind selbst verschuldet. Notfalls versprechen kognitive Verhaltenstherapien und Schlafkliniken Erlösung. Wenn aber alle Hausmittel und psychologischen Suggestionen erschöpft sind und nur noch der pharmakologische Hammer bleibt, tut man womöglich gut daran, den Schicksalsspruch anzunehmen. Ihm standzuhalten, bleibt auch so eine geistige Herausforderung.

Die reiche Literatur zur Schlaflosigkeit hat nun mit zwei Büchern Zuwachs bekommen, die exemplarisch für beide Wege stehen. Anders Bortnes „Schlaflos“ ist ein erzählendes Sachbuch, das die 16-jährige Leidensgeschichte seines Verfassers locker und unterhaltsam rekapituliert.

[Ivo Andrić: Insomnia. Nachtgedanken. Aus dem Serbischen von Michael Martens. Zsolnay, Wien 2020. 187 Seiten, 20 €.

Anders Bortne: Schlaflos. Wie ich nach tausend Nächten endlich Ruhe fand. Aus dem Norwegischen von Sabine Richter. Mairisch Verlag, Hamburg 2020. 232 Seiten, 22 €.]

Zwischen persönlichen Anekdoten, therapeutischen Abenteuern und medizinisch-biologischen Exkursen gibt es sich so bunt wie der 1973 geborene Norweger selbst: Als Redenschreiber des Justizministeriums, Rockmusiker und Romancier lebt er eine Unruhe, mit der er der Linderung seiner Qualen wohl auch ein wenig selbst im Weg steht. Der Untertitel seines ratgebertauglichen Memoirs – „Wie ich nach tausend Nächten endlich Ruhe fand“ – verspricht denn auch etwas mehr, als es die Bilanz seiner Odyssee zu bieten hat.

Schlaflosigkeit als existenzielle Prüfung

Ivo Andrićs „Insomnia“ dagegen, über einen Zeitraum von fast sechs Jahrzehnten entstanden, betrachtet Schlaflosigkeit als existenzielle Prüfung, die mit einer veränderten Perspektive auf die Welt einhergeht: „Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts.“ Es sind Berichte eines Forschers, der Nacht für Nacht ausrückt, um dem Dämon die Stirn zu bieten, gegen Morgen allerdings meist unverrichteter Dinge ins erste Licht zurückkehrt und sich in einem Zwischenreich einzurichten lernt: „Ich lebe neben meinen Schmerzen. Ich warte, warte mehr als halbtot und glaube, dass ich es aushalten, dass auch dies vorbeigehen und ich bleiben werde.“

Jugoslawische Leser konnten diese „Nachtgedanken“ ihres ersten und einzigen Literaturnobelpreisträgers schon 1976, ein Jahr nach Andriks Tod, als Teil von dessen „Wegmarken“ lesen. Auf Deutsch erschienen diese Aufzeichnungen 1982, anders als etwa in Frankreich, ohne diesen letzten Abschnitt.

Der Übersetzer und Herausgeber Michael Martens erklärt in seinem Nachwort treffend, wie sie im schlaflosen Personal von Andrićs Romanen, etwa in „Wesire und Konsuln“, einen fiktionalen Widerhall finden, in ihrem autobiografischen Charakter allerdings etwas Einzigartiges im Werk eines Mannes bilden, der notorische Schwierigkeiten hatte, selbst Nahestehenden gegenüber Persönliches preiszugeben: Offenbar war er nicht einmal entschlossen, diese Miniaturen zu veröffentlichen.

Ivo Andrić, 1892 in Bosnien als katholischer Kroate geboren, bezeichnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg mitunter auch als ethnischer Serbe, als der er in Belgrad bis heute gerne reklamiert wird. Er war der Inbegriff einer jugoslawischen Existenz und, nach Studienjahren in Krakau und in Graz, zugleich ein weltgewandter Europäer. Michael Martens hat ihm 2019 mit „Im Brand der Welten“ eine Biografie gewidmet, die Andrićs Wegen folgt: Als Diplomaten führten sie ihn unter anderem ins nationalsozialistische Berlin.

Latenter Opportunismus

Die Zeitläufte und der latente Opportunismus, mit dem er ihnen begegnete, spielen in „Insomnia“ allerdings kaum eine Rolle. Er präsentiert sich darin als Bürger jenes wahrhaft internationalen Reichs, von dessen Bewohnern Manfred Koch und Angelika Overath in ihrer Anthologie „Schlaflos“ (Libelle Verlag) behaupteten, dass die Zugehörigkeit zu ihm den Einzelnen mitunter mehr als Geld, Geschlecht oder Hautfarbe betreffe.

Die geschliffene Klarheit, mit der Andrić vom Fühllos-Verschwommenen, ja Zersetzenden der Insomnie Zeugnis ablegt, zeugt von einer übermenschlich anmutenden Disziplin, die gleichwohl seine Empfindsamkeit nicht aufzehren konnte. Andrićs akustische Überempfindlichkeit verbindet sich mit einem Bedürfnis nach Musik, das ihm wunderbare Beobachtungen abnötigt – etwa zur onkelhaften Geschwätzigkeit von Franz Liszt.

Wobei es inmitten des Lichts, in das die Schlaflosigkeit jede lebendige Erfahrung taucht, auch dunkle Zonen gibt. „Nicht jene Nächte“, bekennt er, „sind die schlimmsten, die mit ihrem Elend und ihrer Schande schriftlich festgehalten oder auch nur angedeutet sind. Am schlimmsten sind wohl jene, die nirgends erwähnt und beschrieben sind.“

Zur sinnlich-literarischen Dichte dieser vielstimmigen Aufzeichnungen gesellt sich eine philosophische Intensität, die sie an die Seite der großen Schlaflosigkeitsdenker des 20. Jahrhunderts rückt. Andrić ist ein Bruder des rumänischstämmigen Aphoristikers E. M. Cioran, der sich seinen Verzweiflungsexzessen wohl nie so ergeben hätte, wenn ihm nicht schon als 20-Jährigem in Sibiu die Fähigkeit zum Schlafen abhandengekommen wäre.

Cioran sah in der Insomnie eine genuin menschliche Eigenschaft, in der das Bewusstsein an sich selbst irre werde, weil es sich die Machtlosigkeit des eigenen Denkens eingestehen müsse. Während Glück und Elend einer nicht abzuschüttelnden Subjektivität für Cioran (wie für Andrić) bedeutsam sind, führt Emmanuel Levinas in „Vom Sein zum Seienden“ das, was sich in einem ersten Stadium noch als Depersonalisierung erfahren lässt, in ein anonymes Außen, das bei ihm „il y a“ (es gibt) heißt.

Selbstoptimierung und Widerstand

Das alles hat, so zeitlos es wirkt, natürlich seine Geschichte. Was den kulturhistorischen Rahmen angeht, so hat ihn Hannah Ahlheim vor zwei Jahren in ihrer Studie „Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert – Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit“ (Wallstein) gründlich ausgeleuchtet. Überhaupt muss in der Einsamkeit, die Andrićs Aufzeichnungen prägen, ein soziales Leben stecken, das er nur konsequent aussparte, angefangen mit der Frage, wie er als Berufspolitiker die Kondition und Geistesgegenwart fand, seinen Alltag durchzustehen. Niemand weiß indes, wie sehr er an seinen ersten Tagebucheinträgen feilte.

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Verglichen mit dem kinderlosen Andrić wird Anders Bortne bemitleidenswert heftig von Beruf und Familie in Beschlag genommen. Seine Frau pflegt einen ganz anderen Tag-Nacht-Rhythmus, die kleinen Kinder schrecken ihn zusätzlich aus seinen Schlafinseln auf und bei abendlichen Einladungen von Freunden überspielt er seine Ausgehöhltheit mit letzter Kraft – notfalls mit einer Tablette Paracetamol.

Man kann die dafür erforderliche Anstrengung wohl nur schwer als Gewinn betrachten. Aber wer mit ihr lebt, hat keine Wahl. „Alles, was ich im Traum niemals ahnen und in der Wirklichkeit nicht sehen konnte, hat mir die Schlaflosigkeit mit ihrer stummen und finsteren Sprache gesagt“, notiert Andrić. „Selbst mir, der am Tage nicht ruht und in der Nacht nicht schläft, ist das menschliche Glück nicht vollkommen verborgen.“

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