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Der Schriftsteller Heinrich Böll, der Soziologie-Professor Theodor Adorno, der einer der Protagonisten von Gisela von Wysockis Bpchern ist ("Wiesengrund" heißt ihr Roman über Adorno) und der Verleger Siegfried Unseld hören am 28.5.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main einem Vortrag zu.

© picture alliance / dpa

Gisela von Wysockis Buch "Der hingestreckte Sommer": Im Schutz der Bilder und Töne

Die Berliner Schriftstellerin Gisela von Wysocki erinnert sich in „Der hingestreckte Sommer“ an wichtige Stationen ihres Lebens.

Was muss das für ein Staunen gewesen sein, als die junge Gisela von Wysocki bei einem Spaziergang mit den Eltern im Grunewald bemerkte, dass sich die Kiefernbäume an einem Waldweg wie in einer filmischen Überblendung plötzlich in aufrecht gestellte Schallplatten verwandelten. Die kohlschwarzen Scheiben der Schallplatten wurden seither zur Signatur ihres Lebens.

Die 1940 in Berlin geborene Autorin hat ihre Kindheit in einem Elternhaus verbracht, in dem Opernmusik und Schallplatten den Alltag bestimmten.

Ihr Vater Georg war ein Pionier der Schallplattenkultur, der König der Schellackplatten in Berlin. Zu den intensivsten Eindrücken der Autorin gehören denn auch die Momente, in denen ihr Vater wie ein Zauberer den schwarzen Scheiben Töne und Melodien entlockte. In ihrem Romanerstling „Wir machen Musik“ hat Wysocki 2011 die Suggestionen dieses von der Magie der Opernstimmen dominierten Lebens erstmals erzählt.

Ihr neues Prosabuch sprengt nun die Linearität des Erzählens auf und fächert die Darstellung der Kindheit auf zu einem leuchtenden Mosaik aus 49 kurzen Prosatexten unterschiedlichster Machart, die mal als Skizzen, Traumszenen und Mikroerzählungen oder auch als Porträts und philosophische Denkbilder daherkommen. (Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 256 Seiten, 24 €.)

Wysocki schildert prägende Urszenen in ihrer Familie

Bereits in den ersten beiden Stücken führt Wysocki die Motive von musikalischem Genie und menschlicher Vergänglichkeit zusammen. Die Erzählung „Der Kirchenraum“ handelt von der Überführung der sterblichen Überreste Johann Sebastian Bachs aus der im Krieg schwer beschädigten Leipziger Johanniskirche in die Thomaskirche im Juli 1949.

Die finsteren Augenhöhlen des Bachschen Schädels erleben die Zeugen der Überführung als metaphysischen Schock.

Das Verhältnis von Kunst und Tod erforscht auch die zweite Erzählung, die von einer Begegnung mit der hochbetagten Friederike Mayröcker berichtet, die über ihr dunkel verschattetes Gesicht und die „nach Schutz suchenden“ Augen spricht.

Ausgehend von diesen Memento-mori-Geschichten schildert Wysocki prägende Urszenen in ihrer Familie. Während der Vater morgens vom vorübergehenden Domizil der Familie im Havelland ins Berliner Tonstudio aufbricht, bleibt die Mutter zurück und versucht mit dem selbst angebauten Gemüse im Garten die schlechte Ernährungslage zu lindern. Wenn der Vater abends zurückkehrt, hat sich die Mutter wieder in eine mondäne Dame zurückverwandelt, die versucht, den Göttinnen des Films nachzueifern.

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Gisela von Wysocki beschwört in ihrer Erinnerungs-Architektur immer wieder die Protagonisten ihrer früheren Bücher herauf: etwa Marlene Dietrich, die große „Metropolitan Lady“ des Tonfilms, und den Philosophen Theodor Adorno, bei dem von Wysocki studierte und dem sie einen ganzen Roman („Wiesengrund“) gewidmet hat.

In dem Kapitel „Die ruhelosen Wörter“ rekonstruiert sie schließlich die Stationen ihrer intellektuellen Sozialisation und ihren Einstieg in das journalistische und literarische Schreiben. Nach der Einschulung wurde die Siebenjährige reichlich mit Bildbänden über Opernsängerinnen und Schauspielern versorgt, geriet aber beim Erlernen des Schreibens ins Stolpern.

Skizzen gewaltsamer abgebrochener weiblicher Biografien

Später, bei ihrer ersten journalistischen Arbeit für die „Frankfurter Rundschau“, wählte sie zielsicher jenes Themenfeld, das sie zeit ihres Lebens in stilistisch eleganten Artikeln und Essays erforscht hat: Verordnete Träume, Bubikopf und sachliches Leben.

Die Aufbruchsfantasien von Künstlerinnen und Dichterinnen in der Weimarer Republik, ihr selbstbewusster Habitus und ihr Pathos der Sachlichkeit beschrieb sie 1980 in ihrem fabelhaften Essaybuch „Die Fröste der Freiheit“. Etliche Partien aus „Der hingestreckte Sommer“ ziehen die Linien dieses frühen Werks weiter, entwerfen zum Beispiel in skizzenhaften Porträts der in Auschwitz ermordeten Malerin Charlotte Salomon oder der dort ebenfalls getöteten Kinderbuchautorin Else Ury gewaltsam abgebrochene weibliche Biografien.

In dem amerikanischen Organisten Cameron Carpenter findet Gisela von Wysocki schließlich die künstlerische Gestalt, die ihre musikalische und filmische Passion verbindet: Er orchestriert in einem Berliner Kino mit seiner Orgel einen Stummfilm. In vollkommener Ergriffenheit folgt hier die Erzählerin dem Geschehen, darauf bedacht, „die Leinwand nicht durch eigene Lebensäußerungen zu stören“. Das verlockende Reich der Licht-Bilder erscheint als verlässlichster Zufluchtsort, stärker fast als die Magie der Literatur.

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