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Der Peiner Schriftsteller Henning Ahrens, 57

© dpa

"Mitgift" von Henning Ahrens: Im finstersten Winkel des Gebälks

Henning Ahrens erzählt in seinem guten und harten Roman "Mitgift" von einer Landwirtsfamilie, die von einem Vater-Sohn-Konflikt beeinträchtigt wird.

Wer schon einmal von dem Schriftsteller Henning Ahrens gehört oder gar sein „Provinzlexikon“ gelesen hat, weiß sicherlich, dass Ahrens 1964 im niedersächsischen Peine geboren wurde und aus einer Landwirtschaftsfamilie stammt

Mit diesem Wissen dürfte man sich bei der Lektüre seines neuen, für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans „Mitgift“ schnell fragen, ob Ahrens darin die Geschichte seiner eigenen Familie erzählt – was er im Nachwort bestätigt, nicht ohne natürlich darauf hinzuweisen, dass sich seine Romanfiguren „nicht ohne weiteres mit ihren Vorbildern gleichsetzen“ lassen.

Gewidmet hat Ahrens diesen Roman seinem Vater Henning Ahrens, der sich 1989 im Alter von 58 Jahren das Leben genommen hat, und tatsächlich dreht sich „Mitgift“ in seinem Zentrum um einen Suizid.

Allerdings wird dieser Selbstmord 1962 begangenen, auf dem in einem kleinen Dorf nahe Peine gelegenen Hof der Familie Leeb, zumal von einem Mann in seinen frühen Dreißigern, dem eigentlichen Hoferben Wilhelm Leeb junior.

Weiter als bis in das Jahr 1962 erstreckt sich „Mitgift“ zeitlich nicht. Dafür geht es in der anderen Richtung des Zeitpfeils bis zurück in den Februar des Jahres 1755, da der gottesfürchtige Landwirt Hans Wilhelm Leeb darauf hofft, dass seine schwangere Frau nach zwei Töchtern doch bitte schön einen Sohn und damit einen Nachfolger zur Welt bringen möge.

„Mitgift“ umfasst also gut zweihundert Jahre und sechs Generationen, konzentriert sich größtenteils jedoch auf die Zeit während des Zweiten Weltkriegs und die Jahre danach. Im Mittelpunkt steht das Leben der Kernfamilie von Wilhelm Leeb senior, das seiner Frau Käthe und der drei Kinder Wilhelm junior, genannt Willem, Grete und Bruno sowie das der jeweiligen Großeltern.

Sechs Generationen umfasst dieser Roman

Dazu kommt die sogenannte Totenfrau Gerda Derking, die im August 1962, und damit beginnt Ahrens’ Roman, von einem ungewohnt fahrigen, aus der Spur geratenen Wilhelm Leeb senior darum gebeten wird, auf seinen Hof zu kommen, um zu helfen. Will heißen: sich um eine Leiche zu kümmern, sie zu waschen und für die Beerdigung herzurichten. Um wen es sich handelt, verrät er ihr nicht, das bleibt auch in Folge des Romans lange offen. Doch lässt es sich leicht denken.

Henning Ahrens erzählt seinen Familienroman in vielen kürzeren Kapiteln, dabei zeitlich stetig vor- und zurückblendend und jeweils einer anderen Figur die Perspektive überlassend.

So geht es beispielsweise im zweiten Kapitel in den April 1945, als das Dorf sich auf die Ankunft der US-Army vorbereitet; das dritte ist im März 1944 angesiedelt: Wilhelm Leeb senior befindet sich hier mit der Wehrmacht auf dem Rückzug aus der Ukraine. Und danach darf im Mai 1940 erstmals der zu diesem Zeitpunkt neunjährige Wilhelm junior auf das Geschehen im Hof und im Dorf blicken. Er erträgt gerade das Geschrei seines kleinen Brüderchens nicht, zankt sich mit seiner Schwester und leidet unter mangelnder Aufmerksamkeit: „Wenn ich tot wäre, würden Mutter und die Omas bestimmt um mich weinen, geht es ihm durch den Kopf.“

Nach und nach entfaltet sich der Konflikt zwischen dem herrischen Vater und dem erstgeborenen Sohn: Der Vater zieht nach seiner Rückkehr ein zweites Mal in den Krieg, obwohl er das nicht müsste, er als Landwirt hätte zu Hause bleiben können.

Er gerät in Kriegsgefangenschaft und kehrt 1949 zurück. Den Hof hat derweil der Sohn als „Herr im Haus“ geführt. „Ich muss wohl erstmal Zug in diesen Haufen bringen“ ereifert sich der Senior schon am Tag seiner Rückkehr, zum Entsetzen des Sohnes. Aber der junge Wilhelm glaubt zunächst, dass sein Vater nicht erfassen könne, „was sie geleistet haben, aber das wird er schon noch begreifen.“

Naturalistische Züge

Obwohl der Vater-Sohn-Konflikt das Familienleben aus seiner Verankerung trägt, wäre es falsch „Mitgift“ darauf zu reduzieren. Hennig Ahrens widmet sich intensiv auch Gerda Derking, der Totenfrau, erzählt von ihren Freundinnen Lisbeth und Fräulein Bernhard, die beide Kriegsflüchtlinge sind; er porträtiert quasi über Bande die Frauen in der Familie, die zaghafte, ihrem Mann lange treu zur Seite stehende Käthe sowie die Mutter von Wilhelm senior, die wiederum eine pathologisch anmutende enge Beziehung zu ihrem Sohn unterhalt und fast bis zum Ende nichts auf ihn kommen lässt.

Selbst der kleine Bruno bekommt gegen Ende des Romans ein eigenes Kapitel. Er entzieht sich den überlieferten Traditionen, zeigt dem zaudernden älteren Bruder, wie man dem Alten die Stirn zeigt, und geht nach Hildesheim und später zur Bundeswehr.

Es ist einer der Qualitäten dieses Romans, wie präzise das Landleben hier beschrieben ist, das Dorf, die umgebende Landschaft und der Hof der Leebs und was es dort für zwischenmnenschliche Turbulenzen gibt. Mitunter trägt „Mitgift“ naturalistische Züge. Henning Ahrens fühlt sich nicht nur in den jungen Leeb gut ein, sondern gerade auch in den starrsinnigen, herrischen Alten, den Nazi, der der Zeit unter den Nationalsozialisten und ihrem Wahnsinn vom Gewinn von „Lebensraum“ im Osten nur schwer abzuschwören vermag.

Eine schwarze dreibeinige Katze als Symbol

Ahrens realistische Prosa hat etwas geradezu kongenial Bedächtiges. Das ist umso erstaunlicher, weil seine anderen Romane wie „Lauf, Jäger, Lauf“, „Langsamer Walzer“ oder „Tiertage“ fantastisch anmuten und dem Magischen Realismus nahe stehen.

Das gleichberechtigte Nebeneinander von Tier und Mensch, so wie in seinem Roman „Tiertage“, gibt es allerdings auch hier, nicht nur wegen der Kühe, Schweine und Pferde auf dem Hof der Leebs, die mit diesen eine quasinatürliche Beziehung führen. Kapitel für Kapitel gibt es häufig am Ende Zufallsbegegnungen wie mit der Schleiereule, „die in einem finsteren Winkel des Gebälks sitzt“. Mit dem Star, der sich auf dem Kornboden verirrt hat und „ein schnalzendes, rätschendes Spottlied“ anstimmt. Oder mit dem Mäusebussard, der über Wilhelm junior und seiner Sophia auf dem Hochsitz kreist. Sie alle scheinen das bevorstehende Unheil zu erahnen.

Schließlich ist es eine schwarze Katze, der ein Bein und der Schwanz fehlen, die Wilhelm junior gleichermaßen wie ein Symbol des unbedingten Lebenswillens und des Todes auf seinem letzten vergeblichen nächtlichen Streifzug durch das Dorf begleitet.

Von Nostalgie findet sich in diesem typisch deutschen Familienroman keine Spur, gar von Sentimentalität. Nie hat man den Eindruck, Henning Ahrens versuche Sympathien für seine Figuren zu wecken. Am ehesten noch für Gerda Derking, die etwas macht, was in einem Dorf nicht vorgesehen ist: Bücher lesen. „Mitgift“ ist, bei allem trockenen Realismus, aller Bedachtsamkeit, ein harter, schonungsloser, gar nicht so leicht zu lesender Roman – und ein sehr guter überdies.

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