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© imago images/VCG

Horrorthriller „Rachegeist“: Ein pessimistisches Bild der chinesischen Gesellschaft

Das Virus der Popkultur hat seine Ansteckungskraft verloren: Zwischen den Zeilen von Cai Juns raffiniertem Horrorthriller verbirgt sich auch eine Botschaft für den Westen.

Shen Ming ist Lehrer an einem Internat in Shanghai. Als er am Morgen des 5. Juni 1995 aus dem Fenster blickt, entdeckt er die Leiche einer Schülerin auf dem Dach der Bibliothek. Kurz darauf stirbt der Dekan der Schule, und zwei Tage später wird Shen Ming auf dem Gelände einer aufgegebenen Fabrik selbst erdolcht. 

„Ich spürte, wie ich am kalten Boden lag, Bauch und Gesicht in einer schmutzigen Lache“, protokolliert er die Szenerie am Tatort: „Am 19. Juni 1995 um 22:01 starb ich. In der letzten Sekunde meines Lebens glaubte ich, es gebe kein nächstes Leben.“

Das ist ein Irrtum. Shen Ming überschreitet den „Fluss des Vergessens“ und wird wiedergeboren. So beginnt Cai Juns Horrorthriller „Rachegeist“: Im Oktober 2004 befindet sich Shen Mings Seele im Körper eines Kindes und sucht Vergeltung. 

Erfolgsautor aus Shanghai

Nach und nach spürt der Rachegeist die Menschen auf, die die Verantwortung für die Morde in den Neunzigern tragen und zerstört ihr Leben. Zu den Opfern gehören Shen Mings politisch einflussreicher Schwiegervater, seine berechnende Verlobte, ein karrierehungriger Mitschüler und eine Reihe von Personen, die durch Machtintrigen, Habgier und Missbrauch aneinandergekettet sind.

Der 1978 in Shanghai geborene Cai Jun ist ein Bestsellerautor. Der Durchbruch gelang ihm 2001 mit dem im Netz publizierten Thriller „Virus“ - ein Titel, der inzwischen ein paar düstere Beiklänge mehr hat.

Cai Jun ist auf Horror spezialisiert, seine voluminösen Romane erzielen hohe Auflagen. Sein Erfolg hat mit den raffiniert komponierten Plots zu tun und mit den starken Emotionen: Man badet beim Lesen regelrecht in einem glitzernden Meer aus Ressentiment und Leidenschaft.

Zugleich zeichnet Cai Jun ein pessimistisches Bild der chinesischen Gesellschaft. Bauskandale, Korruption und die Jagd nach westlichen Luxusgütern bestimmen den Alltag, das System eines staatlich gelenkten Raubtierkapitalismus zerfällt in Trümmer. 

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Aus den Ruinen erheben sich Dämonen und Rachegeister, dazu eine destruktive Spiritualität, die Cai Jun durch buddhistische, daoistische und christliche Gedankensplitter zu Seelenwanderung und Wiedergeburt unterfüttert: Auf komplizierte Art ist „Rachegeister“ ein fast reaktionäres Buch. Gerade das macht es wohl so attraktiv, nicht nur in China.

Cai Jun zielt mit seinem Horrorthriller auf China, aber zwischen den Zeilen verbirgt sich auch eine Botschaft für den Westen. Immer wieder werden europäische und amerikanische Filme erwähnt und zitiert, „Der Club der toten Dichter“, „Léon - Der Profi“, „Terminator“, was zunächst eine Art Vertrautheitseffekt herstellt. 

Doch die globalisierten Kulturprodukte scheinen in diesem Roman genau wie der geisterhafte Protagonist selbst in eine Schattenwelt zu gehören (in „die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts“), sie wirken seltsam glanzlos, ohne Pathos und Ironie. Der Virus der Popkultur hat seine Ansteckungskraft verloren. Aus China kommt etwas Neues.
[Cai Jun: Rachegeist. Thriller. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. Piper Verlag, München 2020. 510 Seiten, 16,50 €.]

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