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Wie kommt man da wieder raus? Blick in eine Covid-Intensivstation.

© imago images/ULMER Pressebildage

Behandlung von Corona-Infizierten: Herr Spahn, ich möchte wissen ...!

Was sind die Aussichten eines Patienten bei einer Intensiv-Beatmung? Der Berliner Schriftsteller Peter Schneider fordert mehr Informationen vom Gesundheitsminister.

Zahlen spielen in der Corona-Zeit die Rolle von Priestern oder Propheten; im atheistischen Berlin möchte man lieber sagen: von anonymen Hausärzten, die uns zuverlässig besuchen.

Jeden Tag macht man uns mit der neuesten Zählung der Infizierten und Toten bekannt – in Berlin, Berlin-Brandenburg, Deutschland und der weiteren Welt.

Woran sterben die Menschen wirklich?

Inzwischen haben wir gelernt, diese Mitteilungen mit Abstand zu lesen. Die Zahl der registrierten Infizierten, wissen wir, muss man wahrscheinlich mit zwei oder drei multiplizieren, außerdem hinkt sie den Tatsachen mindestens eine Woche hinterher; die Zahl der Toten muss man hinsichtlich der Todesursache hinterfragen.

Ein Hamburger Pathologe behauptet, kein Einziger der von ihm obduzierten Corona-Toten sei ausschließlich an diesem Virus gestorben.

Der neue Parameter, der am ehesten Gewissheit verspricht, gibt über die Tage Auskunft, die das Virus benötigt, um die Zahl der Infizierten an einem gegebenen Ort zu verdoppeln.

Berlin hat inzwischen die Verdoppelungsrate von 36 Tagen erreicht, einen entschieden besseren Wert als etwa Bayern. Aber hatte Angela Merkel nicht versprochen, dass man schon bei vierzehn Tagen von Lockerungen reden könne?

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Mich interessiert eine ganz andere Zahl, über die ich in Deutschland nichts erfahre. Ich möchte wissen, wie viele Patienten, die die letzte Station der Behandlung, die sogenannte intensive Beatmung, durchlaufen haben, eigentlich überlebt haben; und wie viele von den Überlebenden die Behandlung beschwerdefrei oder mit bleibenden Schäden beendet haben.

Da ich selber in diesen Tagen meinen 80. Geburtstag nicht gerade feiere, sondern eher zur Kenntnis nehme, glaube ich, ein Recht auf diese Auskunft zu haben. Denn ich gehöre nun mal zur Gruppe der „hoch Gefährdeten“, die beste Aussicht haben, in einem Intensiv-Bett zu landen.

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Würde ich aber dieses Privileg, wenn denn ein Bett für mich frei sein sollte, wirklich in Anspruch nehmen wollen? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf ich der oben genannten Auskunft, die in den Verlautbarungen des Gesundheitsministers Jens Spahn nicht vorkommt.

Dabei muss es nach etwa zwei Monaten Erfahrung in Hunderten von deutschen Krankenhäusern und deren Intensivstationen genügend Fallzahlen geben. Warum werden sie nicht veröffentlicht?

Der Berliner Schriftsteller Peter Schneider wird nächste Woche 80.
Der Berliner Schriftsteller Peter Schneider wird nächste Woche 80.

© Jens Kalaene / dpa

Wenn ich Andrew Cuomo, den Gouverneur von New York State, der seinen Bürgern jeden Morgen um elf Uhr über das Desaster in seinem Staat Auskunft gibt, richtig verstanden habe, sagte er Folgendes: 50 Prozent der Corona-Patienten, die in den sogenannten Intensiv-Betten versorgt werden, sterben. Achtzig Prozent von den Überlebenden tragen bleibende Schäden davon.

Ich habe großen Respekt vor Andrew Cuomo, der den Fragen seiner Bürger in bestem Englisch mit ebenso großer Empathie wie Präzision Auskunft gibt. Was für ein Unterschied zum Präsidenten Trump, der mit einem aktiven Wortschatz von vielleicht sechshundert Wörtern vor allem Lügen und falsche Hoffnungen verbreitet!

Eine gigantische Fixierung auf Intensiv-Betten

Da ich geneigt bin, Cuomo zu glauben, hat ein Patient, der sich auf die Intensiv-Beatmung einlässt, falls er sich noch dazu äußern kann, nur eine sehr geringe Chance auf ein lebenswertes Leben danach. Ist das in Deutschland anders? Warum habe ich dazu von unserem Gesundheitsminister oder einer anderen zuständigen deutschen Instanz nichts gehört?

Wie kommt es überhaupt, dass die Zahl der bereitstehenden Intensiv-Betten zum wichtigsten Maßstab für die Qualität eines Gesundheitssystems wird – ganz unabhängig davon, wie viele Leben dank dieser Betten und der übermenschlichen Anstrengungen des medizinischen Personals gerettet werden?

Ich kann nichts Schlimmes daran finden, dass wir Deutschen besonders gut in dieser Disziplin dastehen, ganz im Gegenteil, ich finde das großartig. Aber kann es gleichzeitig sein, dass wir alle Opfer einer gigantischen Fixierung auf diese Wundermaschinen geworden sind, die ja nur ganz wenige retten? Und was ist von den Feuilleton-Debatten deutscher Ethiker und Philosophen über die Triage zu halten – wenn die Frage, wie viele Patienten eigentlich eine Intensiv-Beatmung überleben, dabei gar nicht vorkommt?

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Ich glaube allenfalls eine Sekunde lang an die Abhängigkeit deutscher Minister von der Gerätemedizin. Natürlich gibt es solche Interessen; wohl aber glaube ich an die Tradition ziviler Feigheit im deutschen Beamtentum und an die Befangenheit eines deutschen Gesundheitsministers, der längst vor Corona über hundertdreißig todkranken Patienten die dringliche Bitte auf ein Mittel, das ihren Leiden ein Ende machen würde, abgeschlagen hat.

Was würde Herr Spahn einem Corona-kranken Patienten sagen, der in rechtzeitiger Abwägung seiner realen Chancen bei einer Intensiv-Beatmung um einen schmerzfreien Freitod bittet? Der Minister würde wahrscheinlich auf die Patientenverfügung und auf die Möglichkeiten der palliativen Medizin verweisen.

Wie viele Patienten haben die Beatmung überstanden?

Aber muss ein Gesundheitsminister – nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 über das Recht auf einen ärztlich begleiteten Freitod – nicht seine bisherige Haltung überdenken? Und dies gerade angesichts einer Seuche, die dem Patienten im letzten Stadium der Krankheit keine faire Chance übrig lässt?

Zumindest ist er gehalten, den Bürgern die Wahrheit über die Risiken einer invasiven Beatmung zu sagen. Deswegen noch einmal meine Frage: Wie viele Patienten in Deutschland haben die invasive Beatmung überstanden und können als geheilt gelten? Wie viele Patienten sind dabei umgekommen?

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Kürzlich sah ich ein Interview des britischen Premiers Boris Johnson nach seiner Entlassung aus der Londoner Klinik. Er wirkte entspannt, konzentriert und vollkommen ehrlich wie nie.

Bevor er irgendetwas anderes sage, erklärte Johnson, wolle er den beiden Pflegern danken, die „48 Stunden an seinem Bett gewacht und genau im richtigen Moment für die nötige Sauerstoffzufuhr gesorgt“ hätten. Ohne sie hätte sein Schicksal einen ganz anderen Verlauf nehmen können; diese beiden hätten sein Leben gerettet.

Die Sprecher der englischen Regierung haben immer abgestritten, dass der Premier einer invasiven Beatmung unterzogen wurde. Es gibt keinen guten Grund, ihren Versicherungen zu misstrauen.

Was ist, wenn man nicht mehr selbst entscheiden kann?

Wahrscheinlich stand der Premier kurz vor einem solchen Schritt und ist durch die erfolgreiche Beatmung mit einer Atemmaske davor bewahrt worden. In aller Regel dauert eine invasive Beatmung, bei der der Patient ins Koma versetzt wird, mindestens eine Woche, häufiger aber zwei bis drei Wochen. Kann man sich vor diesem letzten Schritt überhaupt noch entscheiden, ob man ihn gehen will?

Wie viele deutsche Patienten würden sich, wenn sie denn wüssten, was auf sie zukommt, auf eine solche Behandlung einlassen? Werden sie darüber bei klarem Verstand unterrichtet, und was ist, wenn sie nicht mehr bei klarem Verstand sind? Wie würde ich mich entscheiden, falls ich mich noch entscheiden könnte?

Mir geht es mit meinen bald achtzig Jahren ziemlich prächtig. Und natürlich folge ich den vernünftigen uns allen auferlegten Regeln zur Vermeidung der Ansteckung. Aber wenn ich von den Plänen der Berliner Gesundheitsministerin und des Kanzleramtsministers höre, die die „Hochrisikogruppe“, also die noch uninfizierten Alten, „zu ihrem eigenen Schutz“ am liebsten völlig isolieren und notfalls wegsperren wollen, dann besinne ich mich auf meine Tradition als Rebell.

Und Herrn Spahn gebe ich schriftlich, dass ich im Fall einer mir drohenden Invasiv-Beatmung keines seiner Betten in Anspruch nehmen werde – es sei denn, er kann mir bessere Zahlen nennen als Cuomo.

Peter Schneider lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens“, Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Peter Schneider

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