zum Hauptinhalt
Der junge Gelehrte in den Schluchten des Wissens, Ende der 1960er.

© Helmut Lethen / DLA Marbach

Helmut Lethen: Die Verwilderung der Sitten

Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen erinnert sich an sein bewegtes intellektuelles Leben.

Im Sommer 1945 liegen weite Teile Europas in Trümmern. Abermillionen Menschen sind Weltkrieg und Holocaust zum Opfer gefallen. Aber was sich die amerikanischen Besatzer nun erlauben, sprengt den Rahmen: „Als kulturlos empfand ganz Oberwesel, wie die fremden Soldaten Fische fingen. Sie schmissen Handgranaten in den Rhein … Unseren Müttern war klar: Zur deutschen Kulturnation gehörte die Kultur des Angelns. Wir sollten uns auf verwilderte Sitten gefasst machen.“

Die Verwilderung wurde später, im Protest gegen die Welt der Mütter und Väter, zum großen Projekt der Generation von Helmut Lethen. 1968 fischte sie sozusagen geistig mit Handgranaten. An solchen luziden, mit einer leisen Komik unterlegten Schnappschüssen ist das Erinnerungsbuch des 1939 in Mönchengladbach geborenen Kultur- und Literaturwissenschaftlers reich.

Es ist eine intellektuelle Biografie mit einem erzählerischen Vorspann. Die ersten Kapitel schildern die rheinländische Kriegskindheit unter Flakscheinwerfern, mit der ständigen Angst vor Luftangriffen. In den Nachkriegsjahren bemühte sich Familie Lethen dann erst einmal beflissen um katholischen Anstand, um vergessen zu machen, dass der Vater, Besitzer eines kleinen Hutgeschäfts, schon 1928 als Arbeitsloser in die NSDAP eingetreten war und auf Fabrikhöfen Reden gehalten hatte.

Auch in der Schule dominierte die Vergessenskultur. Wer heute behauptet, die Besatzungsmächte hätte die Deutschen 1945 „umerzogen“ oder gar einer zum „Schuldkult“ führenden „Gehirnwäsche“ ausgesetzt, den entkräftet Lethen schon durch die Erinnerung an das „verbissene Schweigen“ seiner Lehrer. Durch keine „Reeducation“ vorbereitet, sah er 1957 „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais. Der Dokumentarfilm über Auschwitz und die Vernichtungslager erschütterte ihn fürs Leben.

Das „Aufbrechen der Archive der schweigenden Väter“ und die Befreiung aus dem „teutonischen Trichter der Herkunft“ waren Grundantriebe der Rebellion von 1968. Streckenweise wird Lethens Buch zum Kohorten-Memoir, das nicht mehr in der Ich-Form, sondern im Wir-Ton daherkommt.

Erst Walter Benjamin lesen, dann die Rolling Stones hören

Auf Verklärung hat es der Autor dabei aber nicht abgesehen. Vielmehr geht es ihm um die Erforschung von Motiven, die inzwischen nur noch schwer verständlich sind. „Man kann sich unser Misstrauen gegen den Rechtsstaat heute kaum noch vorstellen“, konstatiert Lethen.

Von den Idolen der Frankfurter Schule hatte man „nie ein einziges Wort zum Schutz der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik gehört“. Das parlamentarische Vermittlungssystem galt ihnen nur als Fassade, mit der die „reale“ gesellschaftliche Gewalt verschleiert wurde: „Aus der Kultur des Ausgleichs gähnte sie Langeweile an.“

Immerhin, Walter Benjamins Essay über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ stand gegen das Verdikt, das Horkheimer und Adorno über die Kulturindustrie verhängt hatten. „Er erlaubte uns die Lust am Trivialen der Massenkultur.“

Schon komisch: Der Theoretiker liest erst Benjamin, bevor er guten Gewissens die Rolling Stones auflegt. Das tat Lethen dann ausgiebig im Jahr 1967, als er mit Adorno in einem Weinlokal saß.

Unaufhörlich ließen er und seine SDS-Kumpane die angesagten Songs aus der Jukebox schallen, um den distinguierten Verächter der Pop-Kultur zu provozieren. Adorno widmete sich jedoch in aller Seelenruhe dem Wein und den Damen. „Das hat mir imponiert.“

Imponierend war auch das Verhalten Peter Szondis, dessen kleines, elitäres Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft 1969 von einem geisteswissenschaftlichen Rollkommando heimgesucht wurde: „Ich zog mit Leuten der Ad-hoc-Gruppe Germanistik los, um Szondis ‚Elfenbeinturm’ zu schleifen. In der kleinen Villa rissen wir Plakate von den Wänden, stahlen Bücher und räumten Szondis Schreibtisch leer.“

Die milde Reaktion des Gelehrten auf die traumatische Attacke beschämt Lethen; erst recht, als Szondi ihn zwei Jahre später für eine Bremer Professur empfiehlt, die er allerdings nicht bekommt.

Von 1970 bis 1975 war er ein Kader der maoistischen KPD/AO. Am marxistischen Sektiererwesen und der heute nur noch peinlich anmutenden Mao-Gläubigkeit der frühen Siebziger entdeckt Lethen nachträglich immerhin einen positiven Nebeneffekt.

Indem sich die die radikale Linke in den ideologischen Grabenkämpfen der rivalisierenden K-Gruppen verausgabte, stabilisierte sie ungewollt das politische System der Bundesrepublik. List der Geschichte: Man glaubt, gegen die Gesellschaft zu kämpfen; in Wahrheit dient man ihr.

Verblüfft war Lethen später, als er erfuhr, dass Carl Schmitt, der „Kronjurist“ des Dritten Reichs und Cheftheoretiker des Ausnahmezustands, mit großer Zustimmung seinen Aufsatz über Benjamin gelesen hatte, den er 1967 für die linke Literaturzeitschrift „Alternative“ verfasst hatte.

Eine moderne Form des Stoizismus

Schmitt fühlte sich pudelwohl im Klima der „politischen Theologie“, das bei Benjamins Exegeten herrschte. Lethen wurde das gutnachbarschaftliche Verhältnis vieler linker und rechter Denkfiguren deutlich.

Längst hatte er sein Interessenfeld da bereits um die Schriftsteller und Theoretiker des rechten Spektrums erweitert. Schmitt, Ernst Jünger und Gottfried Benn wurden neben Helmuth Plessner und Brecht zu den Gewährsmännern seiner Forschungen über die Avantgarde zwischen den Weltkriegen, aus denen sein namhaftestes, 1994 erschienenes Werk „Verhaltenslehren der Kälte“ hervorging.

Darin geht es um eine moderne Form des Stoizismus. Die distanzierte Haltung soll nicht – wie in der Antike – Maßgabe eines kontemplativen Lebens sein; vielmehr wird sie zum „Moment des Arbeitsvollzugs“.

Die aktivistische Impassibilité wurde von Medizinern und Naturwissenschaftlern seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet und in ihrem Gefolge auch bei Künstlern und Schriftstellern der Moderne zum Ideal: „Man genießt es, die Ungerührtheit zur Schau zu stellen.“ Die Geschichte dieser Verhaltenslehre führt allerdings auch zu den NS-Ärzten, die sich gegen alle moralische Anfechtungen immunisierten.

Seine junge Frau wendet sich der Neuen Rechten zu

Der Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ ist vom Ober-Schlauberger Brecht entliehen. Lethen selbst gehört nicht zu den Kalten und Schlauen, sondern zu den Klugen und Mitfühlenden. Seine Autobiografie zeigt, wie sich jemand mit unermüdlicher Denklust durch die Epochen bewegt; viele Lektüre-Anregungen nimmt man daraus mit.

Dennoch hätte die zweite Hälfte eine erhebliche Straffung vertragen. Hier geht es um die Jahre als Professor, erst in Utrecht, dann in Rostock. Lethen rekapituliert Seminare und Tagungen, und es wird öde, wenn er im Ton des akademischen Konferenzberichts seitenlang die illustren Teilnehmer und ihre Thesen aufzählt.

[Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen. Rowohlt, Berlin 2020. 384 Seiten, 24 €.]

Interessant wird es wieder in den letzten Kapiteln, als Lethens Faszination für rechte Denker einen irritierenden neuen Gegenstand bekommt: seine eigene, deutlich jüngere Ehefrau Caroline Sommerfeld: „Zu meinem Schrecken wendet sich Caroline über Nacht der Neuen Rechten zu.“

Die gelernte Philosophin aus linksliberal-grünem Milieu, Spezialistin für Kants Moralphilosophie, befolgt seit der Flüchtlingskrise 2015 eine neue Maxime: Handle jederzeit so, dass dein Altachtundsechziger-Ehepartner politisch in Wallung gehalten wird.

Im Gespräch bleiben trotz Differenzen

Was immer man von Sommerfeld als Publizistin („Mit Linken leben“) halten mag – dieser Wendung verdankt Lethens Erinnerungsbuch noch spannende und anrührende Ausführungen über eine Ehe, die zum Symbol für die Lage des politisch zerstrittenen Landes wird.

Man kann den beiden den Respekt dafür nicht versagen, dass sie im Gespräch bleiben, auch wenn manche Differenz nicht aufzulösen ist. „Hier geht es um Geschichtsfälschung, aber sie glaubt daran“, schreibt Lethen über Sommerfelds Narrativ der Nachkriegsgeschichte („amerikanische Gehirnwäsche“).

Sonst ist sein Ton weniger auf energischen Widerspruch als auf eine leicht resignierte, manchmal auch verdutzte indirekte Rede gestimmt, mit der er ihre Auffassungen referiert. Es gibt für ihn Wichtigeres, als Recht zu behalten. Der Konflikt soll die Familie „nicht zerreißen“.

Ohne die „kalte Luft der Diplomatie“ könne „die Seele nicht atmen“ – diese Maxime von Helmuth Plessner hat Lethen öfter zitiert. Er hat sich wohl nicht träumen lassen, dass er solche Verhaltenslehren der Abkühlung einmal auf die eigene Ehe würde anwenden müssen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false