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Heinrich Riethmüller (l.), der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, überreicht dem Historiker Heinrich August Winkler den Peipziger «Buchpreis zur Europäischen Verständigung».

© dpa/Hendrik Schmidt

Leipziger Buchmesse: Heinrich August Winkler wirbt für Verteidigung der Menschenrechte

Der Historiker Heinrich August Winkler erhielt am Mittwochabend den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei der Flüchtlingsfrage plädiert er für ein offenes Deutschland, aber in Maßen.

Mehr aktuelle politische Sorge wehte zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Mittwochabend schon lange nicht mehr durch das Gewandhaus. Und sie fand ihren zumindest äußerlichen Höhepunkt in der stummen Demonstration, zu der Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aufgerufen hatte. Für einige Sekunden erhoben sich alle Besucher von den Sitzen, um den Fotografen auf der Bühne ein Plakat mit der Aufschrift „Für das Wort und die Freiheit entgegenzuhalten“. Eine Aktion, die dem Artikel 19 in der Erklärung der Menschenrechte zur Freiheit der Meinungsäußerung und zum freien Informationszugang Ausdruck verleihen sollte.

Auch sonst wurde mit allen rhetorischen Kräften an das appelliert, was für den Historiker Heinrich August Winkler, den Preisträger des diesjährigen Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, „das normative Projekt des Westens“ ist: eine auf den Werten der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 und den Zielen der Französischen Revolution von 1789 beruhende Verteidigung universaler Menschenrechte.

Tillich: das Buch, ein probates Mittel gegen politische Gewalt

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung erklärte unter Beifall, dass Deutschland weniger ein Problem mit der sogenannten Flüchtlingskrise habe als mit seiner Fremdenfeindlichkeit. Unter Berufung auf die in Czernowitz geborene und in Düsseldorf gestorbene Dichterin Rose Ausländerin entwickelte er die Skizze eines durch Flucht und Vertreibung vielfältig fragmentierten Lebens. Thüringens Ministerpräsident Stanislaw Tillich empfahl indessen das Buch als allzu probates Mittel, der politischen Gewalt im eigenen Bundesland Einhalt zu gebieten: Wer lese, werfe keine Steine auf Asylunterkünfte - als besäße das geschriebene Wort nicht auch die Fähigkeit zur geistigen Brandstiftung.

Demo zum Messe-Start: Bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse halten (l-r) Messechef Martin Buhl-Wagner, Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) und Preisträger Heinrich August Winkler Karten mit der Aufschrift «Für das Wort und die Freiheit» nach oben.

© dpa/Hendrik Schmidt

Es blieb dem Historiker Heinrich August Winkler vorbehalten, die Perspektive zu weiten - so, wie sie auch in seiner vierbändigen „Geschichte des Westens“ enthalten ist, für die er nun ausgezeichnet wurde. In seiner Rede erinnerte er an die friedliche Revolution in Leipzig von 1989: „Ihre Vorgeschichte hatte im Sommer 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft ,Solidarność‘ im polnischen Danzig begonnen. Polen war das erste Land des Warschauer Pakts, in dem die Zivilgesellschaft 1989 einen friedlichen Regimewechsel erzwang. Die Werte, für die die polnischen Bürgerrechtler stritten, waren dieselben, für die im Herbst 1989 auch in Leipzig und anderen Städten der DDR Menschen zu Zehntausenden auf die Straße gingen: die unveräußerlichen Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts und die Ermittlung des Volkswillens in freien Wahlen.“

Winkler äußerte sich in seiner Rede auch zu Polen

Der Hinweis auf Polen, seit langem ein Land, das ihm ganz besonders am Herzen liegt, verknüpfte sich mit einer aktuellen Mahnung: „Die Werte, für die die polnischen Bürgerrechtler stritten, waren dieselben, für die im Herbst 1989 auch in Leipzig und anderen Städten der DDR Menschen zu Zehntausenden auf die Straße gingen: die unveräußerlichen Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts und die Ermittlung des Volkswillens in freien Wahlen. Die Gegenwart zeigt uns, dass die Kämpfe um die Ideen des späten 18. Jahrhunderts auch im alten europäischen Okzident noch nicht abgeschlossen sind.

Wenn die Europäische Kommission Anlass sieht, einen Mitgliedstaat zur Einhaltung der Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 und des Lissabonner Vertrags von 2009 anzuhalten, tut sie nur ihre Pflicht. Nachhaltigen Erfolg werden solche Ermahnungen freilich nur haben, wenn auch die Zivilgesellschaft des betroffenen Landes den Kampf um bedrohte Freiheiten und Institutionen zu ihrer Sache macht. In Polen geschieht das, und das sollte für uns ein Grund sein, den Glauben an die Zukunft von Rechtsstaat und Demokratie in unserem Nachbarland nicht aufzugeben.“

Winkler: Keine westliche Demokratie kann Probleme der Herkunftsländer lösen

Der in Handlung umsetzbare Appellanteil solcher Bemerkungen blieb gering. Winkler rannte in seiner wie aus allzu großer geschichtlicher Distanz gehaltenen Rede lauter allzu offene Türen ein. Er versuchte, so etwas wie einen dialektischen Konsens zu entwickeln, dem sich alle Anhänger der klassischen Volksparteien anschließen konnten. So konnte er auch sagen: „Um Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Werte geht es auch in der Asyl- und Flüchtlingsfrage. Keine der westlichen Demokratien in Europa, Nordamerika, Australien oder Neuseeland kann die Probleme der Länder, aus denen Menschen in hellen Scharen flüchten, auf ihrem Territorium lösen. Die westlichen Demokratien können die legale Einwanderung erleichtern und die Entwicklungshilfe anders, sowohl großzügiger als auch effektiver, gestalten. Die Europäische Union muss gezielt jenen Ländern des Nahen Ostens helfen, die bei der Unterbringung und Versorgung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien die Hauptlast tragen, und alles tun, was in ihren Kräften steht, um den Friedensgesprächen über Syrien zum Erfolg zu verhelfen.“ Allerdings: „Die deutsche Forderung nach einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems, nach gemeinsamen Anstrengungen bei der Sicherung der Außengrenzen und einer gerechten Verteilung der Schutzsuchenden, ist wohlbegründet. Sie darf aber nicht in einer Form vorgetragen werden, die von unseren Nachbarn als selbstgerecht und anmaßend empfunden wird – als ein Versuch, zumindest auf dem Gebiet der Asylpolitik ein ,deutsches Europa‘ zu schaffen.“

Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler erhielt am Mittwoch im Gewandhaus Leipzig den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung.

© dpa

Er beschrieb den deutschen Sonderweg bei Flüchtlingsfragen nach 1945. Denn „es gab gute Gründe, nach den Erfahrungen der Unrechtsherrschaft der Jahre nach 1933 in das Bonner Grundgesetz von 1949 den Satz aufzunehmen: ,Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.‘ Das war insofern ein Sonderweg, als fast alle anderen westlichen Demokratien das Asylrecht nicht als individuelles Grundrecht, sondern als ein vom Staat zu gewährendes Recht kennen. Die Frage, ob die Bundesrepublik damit mehr versprochen hat, als sie halten kann, wird seitdem immer wieder, auch in Deutschland selbst, gestellt. Sie lässt sich ebenso wenig pauschal abweisen wie eine andere, ebenfalls selbstkritische Frage: Haben wir bei der Reform des Asylrechts-Artikels 1993 das Prinzip von 1949 nicht nur zum Schein bewahrt, nämlich auf Kosten Dritter, der sogenannten sicheren Drittländer? Wäre es nicht ehrlicher gewesen, sich zu dem Prinzip zu bekennen: Politisch Verfolgten gewährt die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe ihrer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Asylrecht?“

Winkler: Flüchtlinge aufnehmen, aber Grenzen der Integrationsfähigkeit beachten

Dies war das entscheidende Stichwort von Winklers doppelter Botschaft: Ja, Deutschland „sollte auch dann Flüchtlingen nach besten Kräften helfen, wenn es damit in der Europäischen Union in der Minderheit bleibt.“ Aber er fügte etwas hinzu, das manche trotz zweifellos rationaler Grundlage umstandslos in harte Forderungen nach Obergrenzen ummünzen könnten. „Nach besten Kräften: das heißt auch, dass eine humanitäre Asylpolitik, die nachhaltig sein will, darauf achten muss, dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit auch morgen und übermorgen noch gesichert sind. Zu diesen Bedingungen gehört nicht nur die Beachtung der Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit, sondern auch der politische Rückhalt in der Bevölkerung, auf den Regierungen und Parlamente in demokratischen Staaten geradezu existenziell angewiesen sind.“

Winkler, Mitglied der SPD seit 1962, doch nie ein strikter Parteigänger, berief sich auf Max Webers Vortrag „Politik als Beruf“, in dem dieser 1919 „die verantwortungsethische Position (im Unterschied zur gesinnungsethischen) als die Einsicht beschrieb, „dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“. Es ist nicht schwer, daraus Winklers Folgerung abzuleiten: „Eine nachhaltige, ihrer möglichen innenpolitischen Folgen bewusste Asylpolitik muss also alles tun, damit das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit des Staates erhalten bleibt.“ dotz

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