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Vollender der idealistischen Philosophie. Hegelporträt von Jakob Schlesinger (1831) aus der Berliner Nationalgalerie.

© Wikipedia

Hegel zum 250. Geburtstag: „Es ist mehr Vernunft, als der Eigendünkel wahrnimmt“

Fünf Autoren machen sich daran, dem eigentümlichen Widerspruchsgeist des schwäbischen Berliners gerecht zu werden.

Auf einer Teegesellschaft bei Goethe geht es um Philosophie, genauer: um die Hegel’sche Dialektik. Der Philosoph, dessen 250. Geburtstag am 27. August begangen wird, ist anwesend und rhetorisch offenbar gut aufgelegt, wenn wir Johann Peter Eckermanns Zeugnis glauben. Denn Hegel liefert an jenem Abend eine intrikate Beschreibung seiner eigenen Philosophie: Nichts als der „geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist“ sei das Wesen seiner Dialektik, und dieser Widerspruchsgeist wohne in jedem Menschen. Rebellion und Ordnungssinn als Common Sense?

57 Jahre alt ist Hegel, als er in Weimar vom Widerspruchsgeist plaudert, und Philosophieprofessor an der noch jungen Berliner Universität. Zwei Jahre später wird er das Rektorat übernehmen. Hinter ihm liegen die Hofmeisterjahre in Bern und Frankfurt, die erste Lehrtätigkeit an der Jenaer Universität, eine Bamberger Redakteurs- und eine Nürnberger Gymnasialstelle, die erste Professur in Heidelberg, von wo er 1818 nach Berlin wechselte. Hegel ist verheiratet und Vater von drei Söhnen, zwei davon ehelich.

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Längst sind seine Hauptwerke erschienen: die „Phänomenologie des Geistes“ (1807), die zweibändige „Wissenschaft der Logik“ (1812–1816), die dreiteilige „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1817) und die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820). Auch die meisten seiner Vorlesungen zur Ästhetik, Religionsphilosophie oder Weltgeschichte, die, posthum erschienen, seine Werkausgabe komplettieren, hat er bereits gehalten.

Systematisches Nein-Sagen

Den Zwischenstopp in Weimar legt Hegel, aus Paris kommend, auf dem Rückweg nach Berlin ein. Vom revolutionären Frankreich ins obrigkeitsstaatliche Preußen: Spiegelt diese späte Reise auch seine intellektuelle Entwicklung, wie ein altes Klischee es will? Und wie passt das systematische Nein-Sagen dazu? Nicht nur der fast 80-jährige Goethe bleibt skeptisch, fragt nach dem Missbrauch und nach der Sophisterei. Wenig später sind auch die Hegel-Schüler zerstritten: Die einen wollen reformieren oder umstürzen, die anderen bewahren oder verteidigen.

Ein Zauberwort, das seine Theorie aufschließen würde, bietet der Satz über die Dialektik nicht. Doch die Beschreibung funkelt. Wem widerspricht eine Philosophie, die erklärtermaßen nur eines will: ihre Zeit in Gedanken fassen? Regeln und Methode bringen Ruhe in das Unterfangen. Bis es donnert und blitzt: Auftritt des Widerspruchsgeists. Oder war es noch ein Geistlein in der Flasche, die erst später entkorkt werden sollte? Wohin also treibt die Hegel’sche Philosophie?

Im Jubiläumsjahr ist der Streit keineswegs entschieden. Kaum weiter auseinanderliegen könnten zwei gerade erschienene Kurzporträts. Systematisch zeichnet der Münchner Philosophiehistoriker Günter Zöller in seiner „Einführung“ bei C. H. Beck Hegels Weg vom „intelligenten Beobachter zum originellen Interpreten des Zeitgeists“ nach: ideengeschichtlich grundiert, werkgeschichtlich fundiert, mit Ausblick auf die großen Deutungslinien. Dem Systemdenken Hegels gewinnt Zöller ein Plädoyer für Komplexität ab – das liefe auf eine besonnene Lesart des methodischen Widerspruchsgeistes hinaus.

Mit dem Marxisten Hans Heinz Holz über Hegel hinaus

Bewusst kursorisch porträtiert Dietmar Dath den Philosophen bei Reclam auf „100 Seiten“. Für ihn ist es eine Rückwärtswanderung – von Marx zu Hegel. Und er wäre daran fast verzweifelt. Erst hegelbegeisterte Mathematiker weisen einen Ausweg, einen Pfad hinein in die schwierige Logik Hegels, eine Spur auf dem Weg zu Marx.

Töricht nennt Dath die Vorstellung vom Konservatismus im Alter. Den Parcours vom jugendlichen Jakobinismus zum absoluten Idealismus deutet er als stringenten Kurs: Im Berliner Professorenamt verteidigt Hegel „just die Sorte Ordnung“, die er zuvor „herbeigesehnt“ hat.

Angetan hat es Dath der „organisierte Widerspruchsgeist“, den er doppelt frei nach Adorno zitiert. Adorno wiederum, selbst durch die dialektische Schule gegangen, hörte dabei Revolutionsmusik: Hegel spreche zwar von einem Sinn aller Menschen, doch eigentlich wolle er dem Common Sense an den Kragen, der nur faules Einverständnis sei.

„Eulenspiegelhaft“ – auch eine doppelzüngige Wendung – sei Hegel dem alten Goethe gegenübergetreten. Nicht nur Adorno, sondern vor allem Hans Heinz Holz, der marxistische Dialektiker, steht Dath Pate, wenn er mit Hegel über Hegel hinauswill.

Mit einem Fanfarenstoß setzt Slavoj Žižeks Beitrag zum Hegel-Jahr an: Das 21. Jahrhundert erklärt er zum hegelianischen, das – in historischer Verkehrung – auf ein marxistisches folge. Wenn die Philosophie mit ihren Untersuchungen erst beginnen kann, wie Hegel schreibt, wenn es zu spät sei, wenn sich also ihr Gegenstand zum Zeitpunkt der philosophischen Untersuchung bereits im Niedergang befinde, dann sieht es nicht gut aus für den Hegel’schen Vernunftstaat.

Zarte Ankündigung des Neuen

Über diesen wäre die Dämmerung auch damals bereits hereingebrochen. Diese Überlegung des amerikanischen Philosophen Robert Pippin nimmt Žižek zum Ausgangspunkt, um sich, anders als Hegel, der zarten Ankündigung des Neuen in unserer Gegenwart zuzuwenden.

Und dann überschlägt sich der Widerspruchsgeist, rennt Hals über Kopf vor der methodischen Anleitung davon. Ein Buch über den Stuttgarter Philosophen ist Žižeks „Hegel im verdrahteten Gehirn“ ohnehin nicht. Wer „Matrix“ im Kino sah, ahnt, worum es geht. Žižek will die vernetzte Zukunft einfangen, indem er die posthumanen Tendenzen der Gegenwart beschreibt, deren Umrisse er in der Dämmerung des Alten zu erkennen glaubt. Im Zitatschatz ist Hegel wieder dabei und natürlich die Psychoanalyse Jacques Lacans – neben allerlei Inhaltsanalysen aus der Film- und Fernsehwelt.

Hegel dagegen hielt es mit der Gegenwart und der Vergangenheit. „Als ein Land der Zukunft, geht es uns überhaupt hier nichts an“, heißt es über Amerika in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die Hegel erstmals 1822/23 hält. An diese Bemerkung erinnert Jürgen Kaube, der mit „Hegels Welt“ die Reihe der großen Biografien fortsetzt: „Hegels Welt“ tritt neben Klaus Viewegs gelehrten, im Tagesspiegel schon separat besprochenen „Philosophen der Freiheit“ und Sebastian Ostritschs luftig gesetzten „Weltphilosophen“.

Historisch oder unhistorisch denken? Kaube hält dies für die entscheidende Frage, die sich dem jungen Hegel stellt – wichtiger noch als der Gegensatz von Aufklärung und Dogmatismus. Den konzeptuellen Takt schlagen dabei die Begriffsgeschichten Reinhart Kosellecks. Dann wäre es brisant, wenn Hegel vom Land der Zukunft nichts wissen will?

Abgesang auf die Zukunft

Immerhin präsentierte Hegel selbst einmal das Neue, die Avantgarde: um 1800, da war er 30 Jahre alt. Als Hegel das territorial verortete Futur so nonchalant beiseiteschob, war es damit vorbei: „die Avantgarden um 1830 fielen nicht mehr in sein Pensum“, weiß Kaube.

Der Abgesang auf die Zukunft fällt beinahe zusammen mit dem Erscheinen der Rechtsphilosophie: jenem Buch also, das Hegel den Ruf des konservativen Bewahrers, sogar des strammen Preußen einbrachte. Es ist zugleich das Werk, dessen Sentenzen wider Willen Furore machen würden: das Grau in Grau der Philosophie und der Eulenflug in der Dämmerung; das Postulat vom wirklichen Vernünftigen und vom vernünftigen Wirklichen. Kaube widmet der Logik dieses Satzes ein fulminantes Kapitel.

Der Reiz pointierter Sätze könne denselben zum Fluch werden. Verselbstständigen sie sich als Quintessenz einer schwer ergründlichen, vielleicht auch rhetorisch ungelenken Philosophie, passiert es: Unversehens verkehren sie die Philosophie in ihr Gegenteil. So geschah es, beklagt Kaube, auch Hegel, der in die Nähe der Burschenschaftler und ihrer Wiedergänger gerückt wurde, deren völkische Ideen Hegel verachtete.

Kaube rekonstruiert die Varianten des Postulats vom wirklichen Vernünftigen aus den rechtsphilosophischen Vorlesungen, darunter diese aus dem Jahr 1820/21: „Es ist übrigens mehr Vernunft in der Welt, als der Eigendünkel annimmt.“

Hegel streitet viel

1821 sieht Kaube in „Hegels Welt“ die Unruhe einziehen – das ist kurz vor den geschichtsphilosophischen Vorlesungen, sechs Jahre vor dem letzten Kurzbesuch in Weimar. Im Berliner Alltag eilt Hegel nach der Vorlesung wie gewohnt ins Theater, auf den Pariser Straßen findet er die Menschen nicht anders als in Berlin, so schreibt er es seiner Frau, die im Kupfergraben geblieben ist, mit Blick auf die Spree. Aber philosophisch und politisch droht die Welt aus den Fugen zu geraten. Hegel streitet viel.

Mit seinen Berliner Kollegen, dem Philologen Friedrich Schleiermacher und dem Misanthropen Arthur Schopenhauer, geht der Zank weiter: Von Letzterem wird Hegel als „Monsieur Nichtwisser“ verspottet, der Religionsphilosophie des Ersteren hat er selbst Hundsköpfigkeit unterstellt. Schwerer wiegen die politischen Auseinandersetzungen. Seit 1819 wollen die Karlsbader Beschlüsse liberale wie nationale Bestrebungen kleinhalten: Die Zensur wird verschärft, Akademiker verlieren ihre Anstellung leichter.

Hegel kennt den gefährlichen Tanz um das Publikationsverbot, vor allem aus seiner Bamberger Zeit. Selbst die Zusammenstellung von Presseberichten über die Französische Revolution brachte ihm da Ärger ein. Sein Vorgänger auf der Berliner Professur, Johann Gottlieb Fichte, musste seiner atheistischen Thesen wegen 1799 die Jenaer Universität verlassen, sich eine Weile ohne feste Anstellung durchschlagen.

In Konflikt mit der Polizei geraten auch Hegels Schüler, von denen einige mit nationalrevolutionären Bestrebungen sympathisieren. Hegel setzt sich für sie ein, obwohl er ihre Überzeugungen nicht teilt. Er schreibt Briefe ins Ministerium, verbürgt sich, zahlt Kautionen. Das lässt sich verfassungsrechtlich als liberale Geste deuten oder geschichtsphilosophisch als Gebärde der Gelassenheit: Die selbsternannten Weltverbesserer sind so wichtig nicht, wie sie glauben.

Die Welt aus unbekannter Perspektive betrachten

Umgekehrt muss auch Hegel einmal vom preußischen Kultusminister persönlich an seine eigene Rechtsphilosophie erinnert werden, wie Kaube festhält: Als er um staatliches Einwirken gegen falsch verstandene Pressefreiheit bittet, wird er staatlicherseits auf den Gerichtsweg und die Möglichkeit einer öffentlichen Erwiderung verwiesen.

Idealismus, heißt es in „Hegels Welt“, sei philosophisches Könnensbewusstsein: sich in die Höhe erheben und die Welt aus unbekannter Perspektive betrachten. Eine Form des Abhebens also, vergleichbar dem ersten Flug im Heißluftballon. Kaube vermisst Nähe-Distanz- Verhältnisse und findet kluge Typologien, die einordnen, ohne aktualistisch zu sein: Fichte wird ihm zum Existentialisten, das rebellische Rauchen erinnert ihn an die langen Haare einer späteren Protestgeneration. Und Hegel?

Als Jugendlicher vom „Freyheitsschwindel angesteckt“, behandelt er in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen den Kaiser von China ausführlicher als die Französische Revolution, wie Kaube vorrechnet. Ein Zeichen von Distanz? Vielleicht hilft die Methodik des Widerspruchsgeists auch gegen den eigenen Übermut. Vielleicht bewahrte sie Hegel davor, wie andere Freiheitsenthusiasten in weltfremde Religiosität oder völkischen Nationalismus zu kippen?

Hegel, der sich früh mit verfassungsrechtlichen Fragen befasste, war auch ein Theoretiker der Öffentlichkeit. Pikant ist deswegen die Publikation seiner letzten Schrift, im Todesjahr in drei Teilen in der „Allgemeinen Preußischen Staats-Zeitung“ gedruckt. Sie befasst sich mit den Auswirkungen der Französischen Julirevolution auf die englische Politik. Das Ungewöhnliche? Sie erschien anonym.

Die besprochenen und erwähnten Titel:

Dietmar Dath: Hegel. 100 Seiten. Reclam, Stuttgart 2020. 100 S., 10 €.

Jürgen Kaube: Hegels Welt. Rowohlt, Berlin 2020. 592 Seiten, 28 €.

Sebastian Ostritsch: Hegel. Der Weltphilosoph. Propyläen, Berlin 2020. 320 Seiten, 26 €.

Slavoj Žižek: Hegel im verdrahteten Gehirn. Aus dem Englischen von Frank Born. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2020. 288 Seiten, 22 €.

Günter Zöller: Hegels Philosophie. Eine Einführung. C. H. Beck, München 2020. 128 Seiten, 9,95 €.

Hendrikje Schauer

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