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Portrait Georges Simenon

© Sanjiro Minamikawa / Simenon.Collection

Große Georges-Simenon-Retrospektive in Lüttich: Der Krimiautor als Chronist der Welt

Georges Simenon hat nicht nur zahllose Maigret- und Non-Maigret-Romane geschrieben, sondern war auch Fotograf. In seiner Heimatstadt ist jetzt eine Ausstellung mit seinen Werken zu sehen.

Die neugierigen Gesichter zweier kleiner Jungen im Fenster eines Holzhauses erscheinen unscharf, vielleicht ist aber auch die Aufnahme verwackelt. Das idyllische Foto erscheint heute trügerisch. Es wurde 1933 im jüdischen Viertel in Wilna, im damaligen Polen, aufgenommen. Heute heißt die Stadt Vilnius und ist die Hauptstadt Litauens.

„Bilder einer Welt in der Krise“ – die Formulierung würde gut zur Gegenwart passen. Doch der Titel der Fotoausstellung im Museum Grand Curtius im belgischen Lüttich bezieht sich auf eine längst vergangene Epoche: die der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie war nicht weniger krisengebeutelt: Die Weltwirtschaftskrise bewirkte Massenarbeitslosigkeit und -armut, totalitäre neue Ideologien von links und rechts sorgten für gesellschaftliche Unruhen.

Bisher wenig bekannt: der Fotograf Simenon

Die Gefahr eines neuen „Großen Kriegs“ lag vielerorts in der Luft. Georges Simenon hieß der Fotograf, und die Impressionen, die er mit seinen beiden Kameras – einer Leica und einer Rolleiflex – einfing, sind eindrucksvolle Zeitdokumente. Pogrome, Hungersnöte und der Zweite Weltkrieg sollten bald ganze Bevölkerungen vertreiben, auslöschen und ihre Spuren verwischen.

Georges Simenon als Fotograf? Der berühmte Schriftsteller wurde 1903 in Lüttich geboren und debütierte im Alter von 16 Jahren als Journalist bei der „Gazette de Liège“. Nebenbei schrieb er zahllose Groschenromane, unter mindestens 27 verschiedenen Pseudonymen. 19-jährig zog er nach Paris. 1931 verfasste er den ersten Roman um Kommissar Jules Maigret, der ihn schlagartig berühmt machte, 74 weitere Krimis der Marke „Maigret“ sollten folgen.

Parallel zu diesen, meist innerhalb einer Woche in die Schreibmaschine gehämmerten Krimis, schrieb er seine „Romans durs“, die „schweren Romane“: anspruchsvolle, psychologisch ausgefeilte Werke von oft existenzialistischer Tiefe wie „Die Katze“ (1967).

Sein Stil zeichnet sich durch äußerste Knappheit und eine eindrückliche Milieuschilderung aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er eine Weile mit seiner Familie in den USA, bevor er nach Europa zurückkehrte und in Lausanne in der Schweiz ein neues Domizil fand. Hier starb er 1989.

Ein Plakat kündigt die Ausstellung über den frühen Georges Simenon an.

© Promo Le Printemps Simenon

Die Ausstellung „Simenon - Bilder einer Welt in der Krise“ ist ein Höhepunkt des „Simenon-Frühlings“, eines neu konzipierten Festivals anlässlich des 120. Geburtstags des bekanntesten Lüttichers. Simenon gehört bis heute zu den meistgelesenen und -übersetzten frankophonen Autoren. Die Ausstellung beleuchtet eine wenig bekannte Seite des Autors: Von 1931 bis 1935 bereiste er als Reporter per Schiff die Welt und dokumentierte seine Erlebnisse in über 3000 Fotos.

Kurator Benoît Denis hebt Simenons Leistung als Zeitzeuge hervor, dessen Sympathie stets den einfachen Leuten galt. Zusammen mit seiner Frau „Tigy“ und seinem Dienstmädchen „Boule“ (die auch seine Geliebte war) reiste er auf Überseedampfern und eigenen kleinen Schiffen wie der „Ostrogoth“. Auf Frankreichs Kanälen fing er bevorzugt die reizlosen, verregneten Häfen mit ihren Fischern ein. In Afrika besuchte er Belgisch-Kongo, den kolonialistischen Schandfleck des damaligen Belgiens.

Wenn manche Schnappschüsse auch Simenon selbst in typischer Kolonialherrenkluft, mit Pfeife und Tropenhelm neben nackten Einheimischen zeigen, so ist doch auf allen Fotos sein Respekt vor den Menschen zu spüren. Die stärksten Bilder stammen aus Osteuropa und zeigen ungeschönt die Ärmsten in Warschau und Wilna. Oder Odessa zur Zeit des Holodomor, der von Stalin herbeigeführten Hungersnot. Momentaufnahmen einer heute verschwundenen Welt.

Seine Fotos illustrierten Simenons kritische Reisereportagen

Seine Reisen finanzierte Simenon mit ausführlichen und oft kritischen Magazin-Reportagen über die besuchten Weltgegenden, die Fotografien dienten zur Illustration. Sie dienten auch als Material für zahlreiche seiner Romane. Auf Deutsch gibt es Simenons Werke im Schweizer Kampa Verlag und als Taschenbücher bei Hoffmann und Campe, wie etwa die erstmals 1948 erschienene Autofiktion „Stammbaum“, in der Simenon Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Lüttich verarbeitete.

John Simenon, der heute 74-jährige Sohn des Autors und dessen Rechteverwalter, weihte während des Festivals den „Simenon-Rundgang“ ein, der dessen Spuren im Arbeiterviertel Outremeuse folgt. Das Literaturfestival diskutierte in zahlreichen Panels an der Universität Lüttich, der der Autor in den 1970er Jahren den Großteil seiner Manuskripte überließ, unter anderem Simenons Bedeutung für das literarische Schaffen nachfolgender Generationen.

Eine weitere sehenswerte Ausstellung, „Simenon – vom Roman dur zum Comic“, widmet sich neuen Comic-Adaptionen, die John Simenon, als Kind selbst begeisterter Comicleser, initiiert hat. „Simenon, l´Ostrogoth“ von Jacques de Loustal erzählt von der Jugend Simenons und der Begegnung mit seiner ersten Frau Tigy in der Künstlergruppe „La Caque“ („Das Heringsfass“).

Eine neue Reihe adaptiert zudem einige der stärksten „Roman durs“ mit dem Ziel, die ganze Bandbreite des Schaffens von George Simenon in unterschiedlichen künstlerischen Handschriften einer neuen Generation nahebringen. Aber auch im Kino bleibt Simenon lebendig: Ende März kehrt sein Kommissar Maigret, dargestellt von Gérard Depardieu, auf die Leinwand zurück.

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