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Philharmoniker-Chefdirigent Sir Simon Rattle.

© picture-alliance/ dpa

Berliner Philharmoniker: Glocken der Großstadt

Ausnahmeabend mit den Philharmonikern: Edgar Varèses „Amériques“ als gleißender, polymorpher Klangstrom. Außerdem Ravel und Debussys verträumter "Nachmittag eines Fauns".

Das Podium ist so groß wie lange nicht, verbreitert bis aufs Äußerte. Als am Ende das zweite, zuvor aus dem Off spielende Bläserensemble hinzukommt, drängeln sich 140 Musiker auf der Bühne, allein 18 Schlagzeuger mit Pauken, Becken, Militärtrommel, Sirenen, Celesta, Schellenglocken, Löwengebrüll und Peitschenknall. Und doch wuchten die Philharmoniker unter Simon Rattle bei Edgar Varèses „Amériques“ keine Klangmassen in den Scharounbau. Der Krach, er bleibt Musik. Ein entgrenzter, schillernder, gleißender, polymorpher, sich klumpender und wieder verflüssigender Strom all dessen, was Ohren zu hören vermögen.

Strawinskys „Sacre“ steht Pate. Wobei Varèse in seinem 1922 entstandenen Werk die atavistische Gewalt der Tuttischläge bis zum Schluss aufspart. Zuvor durchmisst er das tönerne Universum einer Metropole wie New York, das Freiheitsversprechen und die Indifferenz, die Vielfalt und den Schmerz der Großstadt, jene Einsamkeit, die vom Verkehrslärm nie ganz absorbiert wird.

Dank Marimbafon und Celesta wird der Klang zum Raum

Ein Ausnahmekonzert, ein außergewöhnliches Programm. Nach der Pause sitzt Emanuel Ax alleine am Flügel hinter dem leeren Orchestergestühl und spielt „La vallée des cloches“ aus Ravels Klavierzyklus „Miroirs“, halb versteckt unter der Balustrade von Block E. Eine raffiniert-versponnene Programmmusik, die Kirchenglocken von Paris evozierend. Rattle hat sich auf einem der Musikerstühle niedergelassen und lauscht versunken, nachdem er zuvor ein paar Hinweise zur anschließenden Collage aus drei Werken des australischen Exzentrikers Percy Grainger gegeben hatte, darunter dessen Arrangement von Ravels Glocken-Stück. Zum Raum wird da der Klang (wie zuvor bei Grangers Bahnhofs-Ankunfts-Nervositätsstück „Arrival Platform Humlet“), dank Marimbafon, Celesta und mit Schlägeln bespielten Klaviersaiten. Als habe jemand die Fenster einer Pariser Dachkammer aufgerissen, und das Geläut dringt aus allen Himmelsrichtungen herein.

Rattle spielt mit offenen Karten, setzt auf Klarheit statt Zauber

Musik von draußen, Musik der Entäußerung: Begonnen hat der Abend mit Debussys verträumtem „Prélude à l’après- midi d’un faune“. Wie „Amériques“ hebt es an mit einem wehmütigen Flötensolo, später wird man sich an Debussys Landspaziergang als vorzeitiges Echo zu Varèses Stadterkundung erinnern. Schon hier spielt Rattle mit offenen Karten, setzt auf Klarheit statt Zauber. Man vermisst ein wenig die Farbenmelange, das duftig Französische, allen exquisiten Holzbläsersoli zum Trotz.

Auch die Amerikanerin Betsy Jolas bittet ins Offene. Ihre siebenteilige „Little Summer Suite“, ein Auftragswerk der Philharmoniker, beharrt auf dem individuellen Moment, lässt Motive durch alle Stimmen spazieren, zettelt bizarre Zwiegespräche an und rettet das Melodische, nicht ohne es durch kurze Tremoli, Delirien und Dissonanzreibungen zu erschüttern. Ein freundliches Werk, das gleichsam mit einem Fingerschnipsen endet – die fast 90-jährige Komponistin winkt zum Applaus heiter in den Saal.

Emanuel Ax hält die Balance zwischen Nüchternheit und Hingabe

Ähnlich versöhnlich César Francks „Variations symphoniques“. Erst betont Rattle den Kontrast in diesem eigentümlich zerwühlten Werk – hier ein auf Innerlichkeit bedachter rhapsodischer Klavierpart, dort das barsch dreinfahrende Orchester –, bis es dann doch zur Annäherung kommt zwischen dem versonnenen Einzelgänger und einer großstädtischen Geschäftigkeit. Emanuel Ax hält präzise die Balance zwischen Nüchternheit und Hingabe, ein Vorschein von „Amériques“ auch dies.

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