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Hoffnungslos unterlegen. Polnischer Widerständler, gemalt von einer Schülerin. Solche Erinnerungszeugnisse sind derzeit überall im Stadtbild Warschaus zu sehen.

© jal

70 Jahre nach dem Warschauer Aufstand: Geist und Schmerz

Blumen, Friedhofslichter, Kinderbilder - und ein Volk, das gemeinsam Widerstandslieder singt: Wie Warschau sich an das Massaker vor 70 Jahren erinnert.

Sie singen. Sie sind vielleicht zehntausend, vielleicht zwanzigtausend auf dem riesigen, baumlosen Pilsudski-Platz östlich des Sächsischen Gartens im Stadtzentrum Warschaus, und sie singen. Alte Leute, auf ihren Stock gestützt; junge Männer mit den weißroten Fahnen Polens; Paare mittleren Alters; junge Familien, die kleinen Söhne und Töchter auf der Vaterschulter – und sie singen. Das Kampflied „Warschauer Kinder“ zum Beispiel oder den zarten Abgesang in Moll auf das „Mädchen von der Heimatarmee“. Viele singen auswendig. Und wer den Text nicht parat hat, kann ihn von der Videowand dort weit vorn ablesen oder aus dem Heftchen „Mein Aufstands-Liederbuch“, das die Helfer in der Menge gratis verteilen.

Es ist eine traditionelle Veranstaltung, die da alljährlich zum Gedenken an den Aufstand der Warschauer gegen die deutschen Besatzer im Sommer und Herbst 1944 stattfindet, doch diesmal ist sie von ganz besonderer Art. Mehr Menschen als sonst, so die Beobachtung vieler, stehen in der Sommerabendhitze beisammen, um den Jahrestag des Beginns der zwar grausam gescheiterten, aber zum nationalen Mythos gewordenen Revolte zu begehen. Liegt es an der runden Zahl der Wiederkehr des Ereignisses – oder vielmehr daran, dass derzeit im Nachbarland Ukraine ein Krieg herrscht, der die hier Versammelten an ein ebenfalls untrennbar mit dem Datum verbundenes Trauma erinnert?

Sie singen: „Kein Desaster kann die Freien brechen“. Sie singen: „Unser stolzer Gesang soll bis zum Himmel erklingen“. Pathetisch ist das nur insofern im Wortsinn, als die Sätze von Leid sprechen. Aber die Menschen singen so zart, so zurückhaltend, dass man es auch ein gemeinschaftliches Weinen nennen könnte. „Kleines Mädchen von der Heimatarmee / so verschieden war das Ende unserer Wege / ich glaube nicht, dass ich dich jemals wieder sehe / ohne Angst, dass die Welt um uns brennt / kleines Mädchen von der Heimatarmee“.

Binnen Tagen massakrierten die Deutschen die Bewohner eines ganzen Stadtteils

Die Heimatarmee, die Armia Krajowa, das war die quer aus allen Schichten und politischen Lagern formierte polnische Guerillabewegung, die sofort nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen 1939 den Widerstand organisierte und die Volkserhebung zu planen begann. Man weiß, wie furchtbar das Ergebnis war (derzeit dokumentiert eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors das, was als „Warschauer Aufstand“ in die Geschichte eingegangen ist): Ein Jahr nach der Zerschlagung des Aufstands der im Ghetto zusammengepferchten Juden griffen 20 000 unzureichend ausgerüstete Kämpfer der Heimatarmee die in Warschau stationierten deutschen Truppen an und töteten in den zwei Monaten bis zur Kapitulation rund tausend ihrer Soldaten. Die Deutschen dagegen brachten schon in den ersten Tagen rachehalber die gesamte Zivilbevölkerung des südwestlichen Bezirks Wola um, ermordeten schließlich 200 000 Bewohner Warschaus und zerstörten die Stadt vor ihrem Abzug fast vollständig.

Das polnische Gedenken an diese größte Widerstandsaktion gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg ist nicht Pop – wie mancher heute proklamiert, nur weil mittlerweile auch die Popkultur in Graphic Novels oder in Songtexten das Ereignis auf ihre Weise zu bewältigen sucht. Es ist auch keine Folklore; selbst wenn der Rahmen des Erinnerns – Orchester, Chöre, gemeinschaftliches Liedgut – entfernt daran erinnern mag, ruft es hierfür viel zu viel Schmerz auf. Nein, hier artikuliert sich das wache Selbstverständnis eines immer wieder von seinen Nachbarn überrannten Volks, das sich aus einem Widerstandsgeist begreift, den es bis in die jüngste Zeit immer wieder bewies. Positiv ausgedrückt: das Selbstbewusstsein einer Nation – mochte sie noch so sehr für viele Jahrzehnte von der historischen Landkarte Europas getilgt gewesen sein.

Eindrucksvoller als an diesem Sommerwochenende, an dem sich die Touristen die Stadt mit jenen Warschauern teilen, die vor der Hitze nicht an die Ostsee geflüchtet sind, lässt sich diese Kohärenz kaum erleben. Weiß-rot in den Farben Polens und gelb-rot in den Farben Warschaus sind die Häuser und Straßen beflaggt. Unter jeder Gedenktafel, zahllose gibt es davon in der Altstadt, Blumen und Friedhofslichter – und auf den Deckeln der Kanalisation, die an den auch räumlichen Untergrund der Angriffs- und Fluchtwege erinnern. Auf der Prachtstraße Krakauer Vorstadt nachgebaute Barrikaden mit Fotos von Widerstandskämpfern. Überall Pfadfinder verschiedenster Uniformen; unter dem Decknamen „Graue Reihen“ halfen einst viele Pfadfinder als Meldegänger und beim Bau von Molotowcocktails. Und um die Hülle des neuen Nationalstadions am Weichselufer, viermal so groß wie die Berliner O2-World, läuft in der Nacht ein weißrotes Leuchtband mit der Aufschrift „Pamietamy“ – „Wir erinnern uns“.

Jahrzehntelang mussten die Polen ihr Leid und ihre Wut totschweigen

Jener Ort jenseits der Weichsel ist es, mit dem sich die nie ganz ausgeheilte Wunde jener zwei Monate verbindet. Bald nach Beginn des Aufstands hatte die verbündete Rote Armee den dortigen Stadtteil Praga erreicht, setzte jedoch mit den Panzern nicht über den Fluss, sondern wartete, bis der Aufstand zusammengebrochen war und die Deutschen die Stadt zerstört hatten. Militärstrategisch mag das opportun gewesen sein, um die Kräfte für das finale Vorrücken auf Deutschland zu schonen. Polen aber war einmal mehr verraten – und musste zudem nach dem Krieg, als Vasall der Sowjetunion, jahrzehntelang sein Leid und seine Wut totschweigen.

Unter anderen Vorzeichen absonderlich verläuft seither und bis heute die Debatte, wonach der Aufstand absurd gewesen sei, ein sinnloses Selbstmordkommando. Wäre somit jede Revolte gegen einen übermächtigen Gegner sinnlos, also etwa auch der Aufstand der Juden im Ghetto ein Jahr zuvor? Ja, sind die Warschauer womöglich selbst schuld daran, dass die deutschen Militärs sie abschlachteten? Andererseits: Wohin hätte ein fortgesetztes Sich-Ducken geführt? Und erst recht: Was, wenn die Russen im September 1944 den Aufständischen zu Hilfe gekommen wären? Das nachträgliche Besserwissen ist im Ergebnis kaum weniger zynisch als der kalte Vorsatz, die Polen damals im Stich zu lassen.

Warschau hat bitter bezahlt: Es ist heute keine schöne Stadt, aber eine ungemein vitale. Auch die Gedenkfeier, bei der nicht Honoratioren Kränze niederlegen, sondern ein Volk singt, gehört dazu. Am Tag danach schreibt Adam Michnik, Chefredakteur der „Gazeta Wyborcza“: „Ohne den Aufstand zu verstehen, können wir uns selbst nicht verstehen, unseren Ruhm und unsere Not. Ohne diesen - in seinen Folgen so tragischen - Aufstand wären wir eine andere Nation.“

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