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Neue Bahnen: die Mitglieder des Ensemble Modern.

© Vincent Stefan

Das Ensemble Modern beim Musikfest Berlin: Geburtshelfer für die Gegenwart

Das Ensemble Modern feiert dieses Jahr beim Musikfest Berlin sein 40. Jubiläum. Die Musiker und Musikerinnen aus Frankfurt sind spezialisiert auf Uraufführungen.

„Gut“, sagt Christian Fausch, „bei einem Unterwasserkonzert würde man vielleicht noch überlegen.“ Weltberühmt geworden ist das Ensemble Modern für seine Aufgeschlossenheit gegenüber zeitgenössischer Musik und die Fähigkeit, sich gemeinsam auf eine unendliche Vielfalt an Spiel- und Sprecharten einzulassen; wer also den 2016 eingesetzten Geschäftsführer danach fragt, bei welcher Sorte Komposition das Frankfurter Ensemble vielleicht doch eher zögerlich wäre, landet in Gedanken schnell im Schwimmbad, Geigen unter Wasser, absaufende Holzbläser, letzte Luftblasen aus dem Blech.

1980 gegründet, gehört das Ensemble heute zu den weltweit bekanntesten Neue-Musik-Formationen. Im Jubiläumsjahr 2020 ist immer noch ein knappes halbes Dutzend Musikerinnen und Musiker der ersten Jahre dabei. Der Rest der 19-köpfigen Gruppe kam in der Zwischenzeit hinzu, eine eigene Ausbildungsstätte für den Nachwuchs gibt es seit 2003, mit der „Internationalen Ensemble Modern Akademie“. Neben der aufsehenerregenden Offenheit für alles Neue ist es die Basisdemokratie, die das Ensemble Modern im Kern ausmacht. Ähnlich wie die Berliner Philharmoniker verwaltet es sich selbst, anders als dort jedoch kennt man die feinen Unterschiede zwischen Solisten und Tuttisten nicht, gab es auch noch nie einen Chefdirigenten. Stattdessen begreifen sich die Musikerinnen und Musiker als Solisten, die sich ihre Führungskräfte für die jährlich rund 300 Proben- und Konzerttage immer wieder von Neuem aus einem Pool von ungefähr 40 Dirigenten und Dirigentinnen heraussuchen.

Großfamilie oder WG?

Ist das passende Bild für all das nun eine WG oder eine Großfamilie auf Instrumentenbeinen? Oder handelt es sich gar um eine Art musikalische Klostergemeinschaft, mit langwierigen Aufnahmeverfahren für Neumitglieder sowie Zeiten der Prüfung, bevor die lebenslange Bindung eingegangen wird? Da möchte sich zumindest Christian Fausch nicht festlegen. Er weist höchstens auf die formale Organisationsform als Gesellschaft bürgerlichen Rechts und seine eigene Rolle im System hin. Denn genauso, wie die Musikerinnen und Musiker in regelmäßigen Zusammenkünften über neue Mitglieder, das musikalische Repertoire oder die Dirigentin für das nächste Projekt diskutieren, hat das Ensemble Modern ja ihn zum Geschäftsführer bestellt, als Navigator durch die Fährnisse der künstlerisch-betriebswirtschaftlichen Welt und Moderator für den seltenen Fall, dass die monatlichen Diskussionen doch einmal hitzig werden sollten.

Jegliche Entscheidungen trifft das Ensemble in diesem Sinne selbst, vor allem natürlich, wenn es um frisch eintreffende Kompositionen geht. Fast täglich landen Partituren im Briefkasten der Frankfurter Zentrale, die gesichtet und geprüft werden, im besten Falle auch geprobt und aufgeführt, sodass das Ensemble in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zu einer Art Großfamilien-WG mit Klosteranmutung geworden ist, sondern auch zu einer Distributionsplattform für hoffnungsvolle junge Tonkünstler. „Wir prüfen eigentlich alles“, sagt Fausch. Positiv entscheide man vor allem dann, wenn Kompositionen eine neue, eigenständige Musiksprache sprechen, wenn sie das Ensemble und potenzielle Veranstalter einfach interessieren oder konzeptuell zu einem aktuellen Thema passen.

Von Wolfgang Rihm erklingt "Jagden und Formen"

In den zwei Werken, die das Ensemble Modern beim Berliner Musikfest aufführt, kommt all das zum Tragen, auch wenn die Aufführung selbst mit den inzwischen bereits gewohnten Einschränkungen stattfindet. Wegen der Abstandsregeln für die Bühne der Philharmonie hat sich das Ensemble Modern von seinem ursprünglichen Plan verabschieden müssen, eine große Komposition von Heiner Goebbels zur Uraufführung zu bringen. Man fasst sich also etwas kleiner, mit Wolfgang Rihms einstündigem Stück „Jagden und Formen“ und George Benjamins 20-minüter „At First Light“ von 1982.

Und die Vorfreude ist in diesem Jahr besonders groß: Rihm freut sich über Benjamins Dirigat und das neuerliche Erklingen seiner Kammerkomposition, an der er seit Mitte der 90er Jahre bis zur Uraufführung 2001 gearbeitet hat – natürlich mit dem Ensemble Modern. 2008 stellte er das Werk in neuem „Zustand“ vor. Benjamin hingegen hat das Ensemble Modern im letzten Jahr in Luzern durch sein von einem Gemälde William Turners inspiriertes Werk „At First Light“ geführt, wie überhaupt er seit mehr als 30 Jahren eng mit dem Ensemble Modern zusammenarbeitet.

Und die Musikerinnen und Musiker selbst werden beschwingt sein, weil sie beide Werke intim kennen und damit besonders gut ihre gigantischen Qualitäten erneut unter Beweis stellen können. Denn auch hierin ist das Ensemble Modern allen gleichartigen Formationen voraus: in der unbedingten Ernsthaftigkeit, mit der es seine Kunst betreibt. Mitunter geschieht dies zwar in stiller Nachsicht angesichts wenig gelungener Werke, viel öfter aber im ruhigen Wissen darum, dass eine Komposition „nach allerbestem Wissen und Gewissen“ (Fausch) zur Aufführung zu bringen die erste und wichtigste Bedingung für das Anlanden des Neuen in dieser Welt darstellt.

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