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Friedrichstraße: Die Baustelle als Schaustelle

Beton und Bewegung: Der U-Bahn-Bau unter der Friedrichstraße sorgt für Fußgängerströme und Metropolengefühle. Ein Spaziergang.

Seit letzten Sommer geht es so: Wer mit der U6 aus dem Wedding nach Kreuzberg fahren möchte, hört am Bahnhof Friedrichstraße eine Lautsprecherstimme rufen: „Please walk from Friedrichstraße to Französische Straße“. Die U6 ist unterbrochen. Unter den Linden wird gebaut. Ein neuer Kreuzungsbahnhof zur noch ausstehenden Verlängerung der U5 wird errichtet.

Friedrichstraße und Französische Straße sind zu provisorischen Endbahnhöfen geworden und zwingen die Fahrgäste ans Tageslicht. U-Bahnfahrer werden so zu Fußgängern. Oben auf der Friedrichstraße können sie bemerken: Es ist einiges los.

Fußgängerströme wälzen sich über die Gehwege, kommen in Wellen. Fußgänger weichen einander gekonnt oder unbeholfen aus, drängeln, bleiben stehen, rempeln. Rollkofferpiloten ziehen ihre Rollkoffer, Kinderwagenschieber schieben ihre Kinderwagen, 14-Jährige rauchen ungeübt im Gehen. Einer steht an der Ecke, schreibt etwas in ein Notizbuch, bückt sich und hebt eine Ein-Euro-Münze auf. Das Geld liegt hier, so sieht es aus, auf der Straße.

Schnellgeher eilen, Passanten ohne Ziel schlendern, Tütenträger schlenkern mit ihren Tüten, sie alle folgen den auf dem Pflaster klebenden Folien-Fußabdrücken in BVG-gelb. Die Fußstapfen sollen zum nächsten Eingang in den Untergrund führen. Einige sind schon abgetreten und eingegraut, andere sehen aus, als hätten Ratten ihnen nachts eine Zehe abgeknabbert.

Eine Mützenparade zieht die Friedrichstraße hinauf und hinunter, es ist noch Winter. Bommelmützen sind jetzt oft zu sehen, kaum jemand geht ohne Schal. Und wie verschieden Menschen gehen können, die Straße ist ein Laufsteg. Eine Mutter hat zwei alte Bilderrahmen über den Griff ihres Kinderwagens geschoben.

Auf dem Weg zwischen den beiden Stationen, immer den gelben Fußstapfen folgend, könnte einem auffallen, dass die Friedrichstraße wieder zu der engen Schlucht geworden ist, die sie vor dem Krieg schon einmal war – lange Zeit jedoch nicht. Noch vor ein paar Jahren lag hier, vom Stadtbahnhof kommend Richtung Linden gehend rechter Hand eine Wiese. Mit einem mickrigen Baum in der Mitte. Ja, es war weitläufiger hier. Gegenüber standen keine Gebäude zu Füßen des IHZ-Hochhauses, es gab da keine Blockrandbebauung, sondern eine Freifläche.

Auch an der Ecke Unter den Linden befand sich, dem mit sprossenlosen Fenstern verunstalteten Haus der Schweiz gegenüber, einmal ein kleiner Stadtplatz. Ein Vorplatz zum dann abgerissenen Hotel Unter den Linden. Heute steht dort ein unförmiger travertinverkleideter Kasten, der sehr teuer aussehen möchte, die Desasterflughafen-Architekten GMP haben ihn entworfen. Seinen sehr dummen Namen („Upper Eastside Berlin“) hat dieser polierte Investorentraum sich redlich verdient. Wo einst Parkbänke und Blumenkübel herumstanden, hat nun eine Kettenparfümerie ihre Verkaufsfläche. Wechselnde Senatsbaudirektoren feiern das als Wiederherstellung des historischen Stadtbilds. Nun ja.

Von der vermeintlich sagenhaften Kreuzung der Friedrichstraße mit den Linden (einst, aber auch das Vorkriegsfama, für das Café Bauer und das Kranzler berühmt) ist in diesen Monaten nicht viel zu sehen. Eine babylonische Baustelle und ein Bauzaunlabyrinth haben sich ausgebreitet, Versorgungsleitungen werden jetzt oberirdisch auf wehrgangartigen Stahlkonstruktionen geführt. Die U6 fährt vielleicht bald wieder, die Verlängerung der U5 jedoch, für die hier gebuddelt wird, soll erst im Jahr 2019 fertig sein. 2019? Wer glaubt solchen Prognosen?

Vor 15 Jahren gab es hier noch viele Brachen

Auf dem zur Info-Tafel umfunktionierten Bauzaun gibt es, das gehört zur Inszenierung der Baustelle, ein Bild der Tunnelbohrmaschine, genannt „Maulwurf“. Und es heißt: „Die U5. Für mehr Mittendrin.“ Tja. Mittendrin in der Stadt befindet sich nun erst einmal ein gigantisches Loch, das sich durch rahmengeschmückte Fenster im Zaun betrachten lässt. Die Baustelle wird so zur Schaustelle, sie zeigt sich hinter Plexiglas und beweist der Stadt: hier geschieht etwas. Kinder und große Kinder, meist Männer, bleiben stehen und schauen sehnsuchtsvoll auf Bagger, Beton und Armierungseisen. In der Gemäldegalerie – dort haben die Bilder ähnliche Rahmen – ständen sie wahrscheinlich weniger versunken da.

Die Arkadengänge vor den Schaufenstern der VW-Dependance wurden seitlich geschlossen. Sie sind so zur Geh-U-Bahn und Einkaufshöhle geworden. An ihrem Ein- bzw. Ausgang sitzt, strategisch gut platziert, eine Bettlerin und ruft „Please, please!“ Ja, Berlin ist wieder Weltstadt, hier wird nun international gebettelt.

Friedrichstraße, denkt der Fußgänger, du hast es geschafft. Du bist belebt, wie lange nicht mehr. Ja, du wirkst beinah – gäbe es dieses Adjektiv, es könnte passen: manhattig. Ein wenig wie Manhattan um die Penn Station herum. Und das ist erstaunlich, denn vor 15, bald 20 Jahren war hier doch noch sehr viel Brache. Und manchmal war es zum Fürchten leer. Und vor 25 Jahren war die U6 unter diesem Pflaster eine Geisterbahn, und der Bahnhof Französische Straße war ein Geisterbahnhof, in dem kein Zug hielt. Damals war die U6 eine West-Berliner U-Bahn, die Ost-Berlin nur unterquerte.

Heute jedoch glückt die „Berliner Simulation“ (Bodo Morshäuser) einer belebten, geschäftigen Stadt, die neu errichteten Neunziger-Jahre-Kulissen mit Lochfassade sind gefüllt. Es gelingt mit Hilfe des kleinen Tricks, die U-Bahn zu sperren und die sonst unsichtbar durchrollenden Troglodyten aus dem Untergrund in die Sonne zu zwingen. Und sie zu zwingen, sich zu bewegen. Eigentlich nicht die schlechteste Idee. Hatte da eine große Krankenkasse ihre Hand mit im Spiel? Vielleicht sollte öfter irgendwo in Berlin die Strecke zwischen zwei Stationen gesperrt und die Fahrgäste zum Spazieren gezwungen werden. Sie würden mehr von Berlin kennenlernen. Und eventuell sogar Geschmack am Gehen finden.

Es gibt hier Fußgänger, die fast doppelt so schnell wie der Rest durch die Menge pflügen. Und es lässt sich beobachten, wie die Körper zweier Fußgänger sich schon aus einiger Entfernung durch Andeutungen, fast unmerkliche Zuckungen zu verstehen geben, an welcher Seite sie aneinander vorbeigehen wollen, die Körperkommunikation funktioniert auf Entfernung. Manchmal gibt es jedoch Missverständnisse. Oder ungeübte Geher reagieren nicht, gehen einfach quer oder starren auf ihre Telefone, gelegentlich kommt es zu Kollisionen.

Und dann, zuletzt, ist es nicht schön, sich zufällig auf der Friedrichstraße bei Tageslicht – so weit der Berliner Winter es bereitstellt – zu begegnen? Statt wie sonst unbemerkt im Tunnel aneinander vorbeizurauschen? Wie viele frühere Schulkameraden, flüchtige Bekannte, Kindergartenfreunde haben sich hier in den letzten Monaten seit der Unterbrechung der U6 schon getroffen? Die Baustelle der BVG bringt sie zusammen, sie sorgt für Fußgängerbegegnung und Fußgängerbewegung.

David Wagner ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Sein neues Buch „Leben“ ist gerade im Rowohlt Verlag erschienen.

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