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Dorothea Lange. Tractored Out, Childress County. 1938.

© Dorothea Lange/The Museum of Modern Art

Fotografien von Dorothea Lange: Chronistin der USA im 20. Jahrhundert

Essenz einer Epoche: Das Werk der bedeutenden Fotografin Dorothea Lange im Museum of Modern Art New York – jetzt online zu sehen.

Museen und Ausstellungshäuser sind selbstverständlich geschlossen – aber was geschieht mit den Kunstwerken, die sie ausstellen? Was vor allem mit Leihgaben? 

Mit seiner Ausstellung zum Lebenswerk der Fotografin Dorothea Lange ist das New Yorker Museum of Modern Art insofern in einer komfortablen Lage, als sämtliche der 100 gezeigten Fotografien aus eigenem Bestand kommen, die Ausstellung also auch so etwas ist wie ein Leistungsbeweis der Fotografie-Abteilung, das Werk dieser hochbedeutenden Fotografin umfassend zu pflegen.

Mittlerweile lässt sich die Ausstellung am Bildschirm besichtigen. 28 Aufnahmen der Ausstellung sind in einem virtuellen Rundgang zu sehen. Zusätzlich lassen sich auf den Wandabwicklungen die einzelnen Fotos anklicken und gesondert betrachten. 

Dorothea Lange. Kern County, California. 1938. 
Dorothea Lange. Kern County, California. 1938. 

© Dorothea Lange/The Museum of Modern Art

Dabei ist man überrascht – wie schon der Autor dieser Zeilen beim Besuch der originalen Ausstellung im Februar –, wie viele der gezeigten Fotografien zum visuellen Vorrat des 20. Jahrhunderts zählen, mochte man ihre Autorin namentlich kennen oder nicht. 

Die schnurgerade Straße, die sich in der Unendlichkeit einer vegetationsarmen Ebene verliert, die einsame Landarbeiterhütte als Relikt inmitten maschinell gezogener Furchen, die beiden Farmer, die vor einem Drugstore hocken – es sind Bilder aus den von 1935 bis 1939 sich erstreckenden Auftragsarbeiten Dorothea Langes für die „Farm Security Administration“ (FSA) von 1935/39, die in den USA der Roosevelt-Jahre das Elend der Landbevölkerung im von Trockenheit und Staubstürmen heimgesuchten Mittleren Westen und ihre Massenwanderung der verarmten Farmer nach Kalifornien dokumentieren ließ.

Und dann die Aufnahme der „Migrantenmutter“ mit sorgenzerfurchtem Gesicht und ihren zwei kleinen Kindern, die sich an ihre Schultern drücken, die verstrubbelten Köpfe von der nah herangetretenen Fotografin abgewandt. „Migrant Mother“, Langes berühmtes Foto, ist unter diesem Titel freilich erst 1952 publiziert worden, obgleich das Bild gleich nach seiner Aufnahme im März 1936 in zahlreichen Zeitungen abgedruckt wurde, darunter der „New York Times“.

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Langes Fotos wurden nicht zuletzt durch John Fords Verfilmung von John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ bekannt, zu dem sie wie film stills wirken – während vielmehr Ford mehrere Filmszenen den Fotos Langes nachstellte, wie die mit der vom jungen Henry Fonda gespielten Hauptperson am Lenkrad des klapprigen Autos der Migrantenfamilie Joad.

Dorothea Lange – sie lebte von 1895 bis 1965 – auf ihre Arbeiten der späten 1930er Jahre zu reduzieren, ist angesichts der optischen Übermacht dieser Fotografien beinahe unvermeidlich. Doch es tut ihr Unrecht. Lange war verheiratet mit dem Schriftsteller Paul S. Taylor, der sie früh auf die historische Bedeutung der amerikanischen Binnenmigration aufmerksam machte. 

Zu dessen dokumentarischem Buch „Notes on the Field“ von 1935 steuerte Lange die ersten ihrer bald so wirkmächtigen Fotografien bei. Die Zusammenarbeit mit Taylor dauerte an, zudem lieferte Lange Beiträge auch zu Büchern Dritter. 

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Die Ausstellung des MoMA versucht dem Rechnung zu tragen, indem sie Textzitate auf den Wänden zeigt und in Vitrinen Bücher und Publikationen. Lange trat zeitlebens für Bürgerrechte ein, handele es sich um die afroamerikanische Bevölkerung („12 Million Black Voices“) oder die Praxis der Justiz („Public Defender“).

Edward Steichen nahm neun Fotografien Langes in seine Ausstellung „The Family of Man“ auf, die 1955 im MoMA gezeigt wurde und mit ihrem bis heute wiederaufgelegten Katalog die weltweit stärkste Verbreitung von Fotografien bewirkte. 

Darunter waren in größerem Format die „Migrant Mother“ und die wohl früheste der die Great Depression visualisierenden Aufnahmen zu sehen, eine Menschenmenge vor einer Suppenküche in San Francisco 1933, aus der ein einzelner Mann mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und leerem Becher heraussticht. 

Dorothea Lange. Migratory Cotton Picker, Eloy, Arizona. November 1940. 
Dorothea Lange. Migratory Cotton Picker, Eloy, Arizona. November 1940. 

© Dorothea Lange/The Museum of Modern Art

Von dieser Aufnahme an war die Mitarbeit bei der FSA quasi vorgezeichnet, wo Lange auf so bedeutende Kollegen wie Walker Evans, Ben Shahn oder Gordon Parks traf.

Spätere Reportagen für Magazine wie „Life“ haben nicht mehr dieselbe Kraft, aber das liegt auch am Sujet. Im Herbst ihrer Berufslaufbahn wurden Langes Bilder verschlossener. Sie konzentrierte sich beispielsweise auf einzelne Hände, auf enge Bildausschnitte, während sie der Welt draußen mit der Nachkriegs-Wohlstandsgesellschaft nicht mehr die ebenso aussagekräftigen wie durchkomponierten Sinn-Bilder der dreißiger Jahre abgewinnen konnte.

„Jede Fotografie (...) kann durch Worte verstärkt werden“, hat Lange einmal bemerkt, und so trägt die Ausstellung des MoMA denn auch den vollständigen Titel „Dorothea Lange. Words & Pictures“. Sie ist – was der Online-Präsentation sehr zugute kommt – nicht ausufernd groß, und doch durchwandert man sie mit dem Gefühl, eine ganze Epoche besichtigt, ja womöglich verstanden zu haben. 
New York, The Museum of Modern Art, bis auf Weiteres. Katalog bei Versand 62,95 €. www.moma.org. Die Ausstellung online

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