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Keine Angst vor Experimenten. Die US-Schriftstellerin Bonnie Garmus. Sie wurde 1957 in Kalifornien geboren.

© Serena Bolton/Piper Verlag

Bonnie Garmus' Roman "Eine Frage der Chemie": Formeln und Feminismus

Bonnie Garmus erzählt in ihrem weltweiten Bestseller „Eine Frage der Chemie“ von einer Wissenschaftlerin und Fernsehköchin in den sechziger Jahren.

Es sind die mittleren fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, und die Heldin von Bonnie Garmus’ Roman „Eine Frage der Chemie“, Elisabeth Zott, unterhält sich mit ihrer Nachbarin über ein Buch, das nach der Bibel das bis heute meistverkaufte in den USA ist: Benjamin Spocks Erziehungsratgeber „Säuglings- und Kinderpflege“.

Die Nachbarin wundert sich, dass hier ein Mann ein Buch über Dinge schreibt, von denen er „aus erster Hand“ gar nichts wissen könne, „und trotzdem: zack. Ein Bestseller. Wissen Sie, was ich glaube? Seine Frau hat das Ganze geschrieben und seinen Namen draufgesetzt. Ein Männername klingt ernst zu nehmender, finden Sie nicht auch?“ Elisabeth Zott findet das nicht, antwortet kurz und bündig mit „Nein“, und ihr Gegenüber lenkt ein: „Stimmt.“

Diese Szene charakterisiert ganz gut einen Teil der Atmosphäre, die diesen Roman durchzieht, eine Atmosphäre des feministischen Erwachens in breiten Gesellschaftsschichten, und das zu einer Zeit lange vor ’68 und sexueller Revolution. Elisabeth Zott trägt dabei die Züge eines feministischen role models: erst als Chemikerin, die in einem komplett männlich dominierten Umfeld keine Chance bekommt. Dann als Fernsehköchin einer Show im frühen Abendprogramm, „Essen ums sechs“, in der sie ihre emanzipativen Vorstellungen an die Frau bringt.

Bonnie wer?

Ob diese Leitmotivik einer der Gründe für den immensen, auf den ersten Blick überraschenden Erfolg dieses Romans einer späten Debütautorin ist? Man staunte jedenfalls nicht schlecht, als Anfang April ganz oben in den Bestsellerlisten zwischen üblichen Verdächtigen wie Sebastian Fitzek, Ildiko von Kürthy, Elisabeth George oder Donna Leon ein Name stand, den man bis dato noch nie gehört hatte: Bonnie wer?

1957 in Kalifornien geboren, lebte Bonnie Garmus lange in Seattle, machte als Kreativdirektorin Karriere, versuchte sich vergeblich an zwei nicht veröffentlichten Romanen und begann mit dem Schreiben von „Eine Frage der Chemie“, nachdem sie mit ihrem Mann vor ein paar Jahren nach London gezogen war.

Auch was der Klappentext als Inhaltsangabe mitteilte, ließ sich nicht unbedingt als Aufforderung verstehen, sofort und mit Begeisterung dieses Buch zu lesen.

Eine Geschichte aus den sechziger Jahren (wiewohl sie hauptsächlich in den Fünfzigern angesiedelt ist), „es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei“, dominiert von einer Chemikerin, der niemand vorher zugetraut hätte, eine solche zu werden und die der Star einer Kochsendung wird? In der sie ihrem Publikum weniger das Kochen beibringt, sondern sich über chemische Formeln und Bindungen auslässt? Das klingt zwar originell, aber nicht über die Maßen attraktiv.

Zwei Millionen Dollar kostete das Manuskript

Andererseits ist dieser Erfolg nicht so außergewöhnlich, wie es den Anschein hat. „Eine Frage der Chemie“ war – anders als beispielsweise Delia Owens’ „Der Gesang der Flusskrebse“, ein vergleichbares Überraschungserfolgsbuch – von Beginn an als Bestseller geplant.

Vor zwei Jahren auf der Frankfurter Buchmesse, die wegen Corona ausschließlich digital über die Bühne ging, galt Bonnie Garmus’ Manuskript als das begehrteste, am höchsten gehandelte dieser Messe. Von zwei Millionen Dollar ist die Rede, die der zur Penguin Random House Gruppe gehörende US-Verlag Doubleday schließlich für die Rechte bezahlt haben soll.

In über 35 Länder ist „Eine Frage der Chemie“ inzwischen verkauft worden, und hierzulande dürfte der zur schwedischen Bonnier Gruppe gehörende Münchener Piper Verlag nicht wenig für die Übersetzungs- und Veröffentlichungsrechte gezahlt haben („Eine Frage der Chemie“.  Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 462 S., 22 €).

Was weitere Anstrengungen nach sich zog: Die Buchhändlerinnen und Buchhändler wollten überzeugt werden, unter anderem mit Vergleichen wie „So smart wie ,Damengambit‘, so amüsant wie ,Mrs. Maisel‘, dazu gab es Aufsteller, Poster und andere Werbemittel, so eine überdimensionierte Leseexemplarkiste allein für diesen Roman.

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Solche PR-Maßnahmen sind gängige Praxis, nur garantieren sie noch lange keinen Bestseller. Schon gar keinen dauerhaften, wie jetzt im Fall von „Eine Frage der Chemie“. Dieser Roman war den ganzen Mai über auf Platz 1 oder 2 der „Spiegel“-Bestsellerliste zu finden, wird also weiterhin Woche für Woche gut verkauft.

Wie oft verkalkulieren sich Verlage mit den sogenannten Messebüchern, weil sie zu viel Geld dafür bezahlen und das nicht wieder einspielen. Oder mit dem Einkauf von Bestsellern aus anderen Ländern, aus Spanien, Frankreich oder Italien, die dann in Deutschland nicht funktionieren wollen. Auch im Bereich der Unterhaltungsliteratur ist es oftmals eine Frage der literarischen Qualität, ob ein Buch ein größeres Publikum erreicht. Diese Qualität hat „Eine Frage der Chemie“ passagenweise.

Das spürt man gleich am Anfang, da Garmus ihre Heldin einführt und einen Romanüberblick gibt: Wie die alleinerziehende Mutter einer ungewöhnlich intelligenten fünfjährigen Tochter (die bereits das Dickens-Gesamtwerk gelesen hat, die auch Proust, Faulkner oder Melville liest) zum „unangefochtenen Star“ einer Kochshow wird.

"Wir werden Abendessen gemacht haben. Und es wird Gehalt haben."

Und das setzt sich fort, als die eigentliche Handlung beginnt. Es ist das Jahr 1952, und Elisabeth Zott verliebt sich in Calvin Evans, einen Chemikerkollegen und Nobelpreiskandidaten. Beide arbeiten am Forschungsinstitut einer südkalifornischen Kleinstadt, beide sind Einzelgänger und müssen die Häme ihrer Kollegen ertragen (sie, weil sie eine Frau ist, er, weil er Erfolg hat), beide scheinen füreinander geschaffen zu sein. Allerdings wehrt Zott sich dagegen, mit seinem berühmten Namen in Verbindung gebracht zu werden, gerade was ihre eigene Arbeit anbetrifft. Weshalb sie Evans auch nicht heiraten möchte.

Als er stirbt, ist sie schwanger, verliert ihren Job, funktioniert ihre Küche in ein Chemielabor um – und bekommt das Fernsehangebot. Sie nimmt es an, hat jedoch gleich bei ihrer ersten Sendung Probleme, den Erwartungen gerecht zu werden. Weshalb sie sagt: „Ich nehme Kochen ernst und ich weiß, Sie tun das auch.“

Um dann auf die „kostbare Zeit“ von Hausfrauen zu verweisen und einen Pakt vorzuschlagen: „Meiner Erfahrung nach bringen viel zu viele Menschen der Arbeit und der Aufopferung einer Ehefrau, einer Mutter, einer Frau nicht genügend Wertschätzung entgegen. Ich jedenfalls zähle nicht zu diesen Menschen. Am Ende unserer dreißig Minuten werden wir etwas Sinnvolles getan haben. Wir werden etwas geschafft haben, das nicht unbemerkt bleiben wird. Wir werden Abendessen gemacht haben. Und es wird Gehalt haben.“

Kämpferin für Gleichberechtigung und Emanzipation

Es macht Spaß, zu lesen, wie Zott immer wieder mit dem Produzenten der Sendung und den Fernsehleuten aneinandergerät; wie sie, dickköpfig wie sie ist, die natürliche Chemie der Lebensmittel und die Bindungen, die diese beim Kochen eingehen, an ihr Publikum bringt, mit Formeln und Fachausdrücken.

Als primäre Aufgabe versteht sie es, das Wissen ihrer Zuschauerinnen zu vergrößern und deren Selbstbewusstsein zu stärken.

Zott ist eine Kämpferin für Emanzipation und Gleichberechtigung. Das hat in diesem Roman bisweilen etwas Klischeehaftes, da vertraut Bonnie Garmus der Holzhammermethode. Alle Frauen in diesem Roman beginnen sich zu emanzipieren: die Nachbarin, die sich von ihrem Ehemann trennt; die Institutssekretärin, die Zott irgendwann zu Hilfe kommt; die „Essen vor sechs“-Zuschauerin, die sich traut, Medizin zu studieren.

Und so viel Achtsamkeit war auch noch nie in einem Roman, der in den fünfziger Jahren spielt: Am Ende jeder Sendung rät Zott ihrem ausschließlich weiblichen Publikum, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Mitunter ist es arg offenkundig, wie Bonnie Garmus hier aus heutiger Perspektive auf die fünfziger Jahre blickt.

Ihre Elisabeth Zott scheint eine Zeitreise unternommen zu haben und repräsentiert das Ideal einer engagierten Feministin, die sich trotz vieler Widerstände durchsetzt, die alles richtig macht – und natürlich dafür im Jahr 2022 viel Applaus vieler Leserinnen bekommen dürfte.

Doch „Eine Frage der Chemie“ hat auch auf anderen Gebieten Zwingendes zu bieten. Bei der Exploration diverser Lebensgeschichten, gerade der von Zott und Evans, hat man den Eindruck, Garmus sei in die Schule eines John Irving oder Nick Hornby gegangen. Ein Waisenhaus, ein Hund, der Halbsieben heißt, und ein Ruderclub spielen nicht unwesentliche Rollen. Da ist es dann auch legitim, innerhalb der Kapitel mal schnell Perspektiven zu wechseln, ob sich nun ebenjener Hund mal einschaltet oder die Geschehnisse bei Zotts Kochshows mit denen in den Haushalten überall im Land verlinkt werden.

Trotz einiger Längen nach hinten raus, trotz des kalkuliert wirkenden Sendungsbewusstseins ist dies ein Roman, der gleichermaßen witzig wie klug unterhält. „Gehen Sie Risiken ein. Haben Sie keine Angst vor Experimenten“, lässt Garmus einmal ihre Heldin vor der Kamera sagen. Im Fall dieses Romans kann von einem Risiko keine Rede sein. „Eine Frage der Chemie“ hält, was sein Bestsellerplatz verspricht.

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