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Filmkritik: Vom Leben zerknittert

Not und tot: Der belgische Krisenfilm „Der Tag wird kommen“ von Benoît Delépine und Gustave de Kervern.

Ist er schon nah, der Vorabend der Revolution, den sie in Frankreich „Le grand soir“ nennen – genauso, wie der fünfte Film von Benoît Delépine und Gustave de Kervern im Original heißt? Warten wir nur noch auf ein apokalyptisches Zusammenbrechen unserer bisherigen Lebensumstände, wie es der deutsche Verleihtitel „Der Tag wird kommen“ suggeriert? Holt uns jetzt alle „die Krise“, die auch Jean-Pierre seinen Job kostet, beendet sie im Handstreich die unverantwortliche Art, mit der wir einander und diese Erde ausbeuten? Das Regieduo Delépine und de Kervern („Louise Hires a Contract Killer“) hat ein Ohr für das Gären am vermeintlichen Rand der Gesellschaft und es hat ein zuverlässig von schwarzem Humor geschütztes Herz für all jene, die nicht mehr mitmachen können oder wollen oder beides.

Jean-Pierre (Albert Dupontel) hat es versucht, das Mitschwimmen im Gesellschaftsstrom, hat es zu Häuschen, Frau und Kind gebracht und immer brav Matratzen im Einkaufszentrum feilgeboten. „Einer der wenigen Orte auf der Welt, wo du in einer normalen Gegend spazieren gehen kannst. Mit ganz normalen Leuten, umgeben von normalen Produkten“, lobt Jean-Pierre den maroden Moloch, der ausgestreckt auf riesigen Parkplätzen unter aufgepflanzter Leuchtreklame gähnt. Neinsagen ist hier schwierig. „Und dein Scheißgelaber ist auch ganz normal?“, kontert sein Bruder (Benoît Poelvoorde), ein Altpunk, der sich Not nennt. In seiner Figur haben die Regisseure Diogenes wiedergeboren, den Straßenphilosophen, der nichts besitzen wollte, damit er seiner Umgebung unter die Nase reiben konnte, dass Besitz, Karriere und Ansehen nicht zur Glückseligkeit führen. Man schimpfte ihn Hund – er fasste es als Ehrentitel auf.

Natürlich hat Not einen Hund, mit dem er durch das Einkaufzentrum schlurft, älteren Damen Jogurts aus den Einkaufswagen mopst und Grimassen für die Überwachungskameras schneidet. Und bald hat er auch Gesellschaft: Jean-Pierre fliegt nicht nur zu Hause raus, auch sein Bettenhauschef feuert ihn. Wegen der Krise, weil er dem Druck nicht standhält. Wüten und furiose Stille wechseln sich ab, kuriose Begegnungen glimmen zwischen den Konsumbaracken auf. In einer bodenlos absurden Szene wirkt auch ein gewisser neurussischer Narr mit, ein ehemaliges französisches Schauspielermonument. Aus dem Reisschnaps soll der Koloss mit dem Häkelmützchen die Zukunft lesen können, doch er darf sich dabei um Gottes willen nicht aufregen. Ein Ding der Unmöglichkeit, naturgemäß.

Nach einer Absturznacht erwacht Jean-Pierre mit einem Irokesen, auf seiner Stirn steht „Dead“ tätowiert. Fortan liefern Not und Dead Beweise ihrer Freiheit. Sie laufen geradeaus durch eine Neubausiedlung, immer geradeaus, über all die Mäuerchen und Motorhauben hinweg, durch Goldfischteiche und Gartenstuhlarrangements. Nie treffen sie auf nennenswerte Widerstände. Es scheint, es gebe sie eigentlich gar nicht mehr, die Ordnung. Nie taucht die Polizei auf, die Mitmenschen sind ruhig und indifferent. Das bleiben sie auch, als Not und Dead zu einem großen Ding laden, abends auf den Parkplatz beim Baumarkt.

Kann man mehr als Nein zum Bestehenden sagen, wenn man sich nicht gemein machen will mit den Gemeinheiten? Delépine und de Kervern liefern darauf vorsätzlich keine Antwort. Sie schicken ihr stures, vom Leben zerknittertes Brüderpaar hinaus zum Kampf gegen Leuchtreklame und betrachten es mit Wohlwollen, ebenso wie die aus der Fassung gefallenen Eltern in ihrem stets leeren Kartoffelrestaurant. Mit einer Digitalkamera, die körnige, farbstichige Bilder liefert, streifen sie das Einkaufzentrum hinauf und hinab, eine eigene Ästhetik des Widerstands suchend. Und finden dabei immer wieder einen mit Poesie gereckten Mittelfinger, der nicht unbedingt alles kurz und klein schlagen muss. Nur so ein ganz kleines bisschen.

Colosseum, Moviemento; OmU: fsk und Hackesche Höfe

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