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Stummfilmstar Musidora, geboren als Jeanne Roques, war das It-Girl des frühen Kinos.

© Cinema Ritrovato

Filmfestival „Il Cinema Ritrovato“: Bologna feiert das Kino der Vergangenheit

Filmgeschichte mit Leidenschaft: Das Freiluft-Festival „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna zeigt Meisterwerke des Kinos auf der Piazza Maggiore.

Musidora war eine legendäre Figur, Berühmtheit erlangte sie als Meisterdiebin und Cabaretsängerin Irma Vep in Louis Feuillades zehnteiligem Stummfilm-Serial „Les Vampires“ von 1916. In ihrer letzten Regiearbeit spielt die französische Schauspielerin, Regisseurin, Dichterin, Muse der Surrealisten und spätere Mitarbeiterin der Cinémathèque Française eine Regisseurin, die für ihren nächsten Film einen spanischen Torero als Hauptdarsteller zu gewinnen versucht. Ihre Methode ist dabei so ziemlich das genaue Gegenteil von weiblicher Verführung: Sie verwandelt sich in einen komischen Kauz mit ausgesucht schlechten Manieren. Nachdem sich „die Hässliche“ weder mit fettem andalusischen Essen noch mit Gift loswerden lässt, hetzt ihr der Torero einen Stier auf den Hals und gerät selbst in Todesgefahr. Worauf Musidora ihn heldinnenhaft rettet.

„La tierra de los toros“ (1924) ist ein schillerndes Pionierwerk nicht nur des selbstreflexiven, sondern auch des autofiktionalen Kinos. Ursprünglich war der Film als Mischung aus Kino und Live-Performance konzipiert. Auf dem Filmfestival „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna wird die Vorführung mehrfach mit kurzen Flamenco-Intermezzi sowie Licht- und Projektionsspielen unterbrochen. Auch wenn diese Mischung aus historischer Rekonstruktion und Interpretation schon an Liebhaberei grenzt: Das von der Kinemathek in Bologna ausgerichtete Festival gehört zu den wenigen seiner Art, das keine Mühe scheut, ein Werk wie „La tierra de los toros“ möglichst originalgetreu wiederzugeben und damit dem Kino als einer sinnhaften und genuin kulturellen Praxis gerecht zu werden. In diesem Jahr hat man der Multikünstlerin Musidora, die 1889 als Jeanne Roques geboren wurde, eine Werkschau ausgerichtet.

In die Freiluftvorführungen strömt das Publikum

Seit seiner Gründung 1986 als kleines Spezialistenfestival wirft das „Il Cinema Ritrovato“ ein Licht auf die Arbeit in den internationalen Filmarchiven und Kinematheken. Das Programm widmet sich den Meisterwerken der Filmgeschichte, den kanonischen und dem Vergessen anheimgefallenen, überwiegend in restaurierten Fassungen. Über die Jahre hat der Umfang des „Cinema Ritrovato“ zugenommen, aktuell ist das Programm um eine 16mm-Sektion und sogar einen weiteren Festivaltag erweitert.

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In den gut besuchten Freiluftaufführungen auf der Piazza Maggiore öffnet sich das Festival abends dann auch für das lokale Nichtfachpublikum. Hier laufen digital aufpolierte Evergreens, oftmals begleitet von den Filmschaffenden selbst, sofern diese noch unter den Lebenden weilen. Zum Rahmenprogramm gehören ebenfalls Fachgespräche zu filmkonservatorischen Themen. Zuletzt schmückte sich das „Ritrovato“ auch gerne mit prominenten Namen, in diesem Jahr gehören Nicolas Winding Refn und Francis Ford Coppola zu den Gästen. In Erinnerung aber bleiben andere Begegnungen, etwa mit Jean-Pierre Dikongué-Pipa, dessen „Muna Moto“ (1975), einer der ersten in Kamerun gedrehten Spielfilme, im Rahmen des „Cinemalibero“-Programms vertreten war. Der 79-Jährige bricht bei der Erinnerung an seine schwierigen Anfänge als Filmemacher mehrfach in Tränen aus.

In Bologna ist fast jeder Film eine Neu- oder Wiederentdeckung. Kaum freut man sich, die subtilen Abgründe im dokumentarischen Werk von Georges Franju ausfindig gemacht zu haben, hat man auch schon einen weiteren Film aus der fantastischen Retrospektive des amerikanischen Regisseurs und Produzenten Henry King verpasst. Grundfalsche Entscheidungen lassen sich auf dem Festival ohnehin kaum treffen. Oft übt gerade das Nebeneinander von Klassikern und obskuren Werken einen besonderen Reiz aus. Zu letzteren gehört eine ganze Serie von Filmen, die vor hundert Jahren zu privaten Zwecken auf dem Anwesen der Comtesse Greffulhe gedreht wurden und die Fasanenjagd als ein geradezu fordistisch organisiertes Gemetzel vorführen.

In der südkoreanischen Reihe lasssen sich Entdeckungen machen

Ein unerschöpfliches Feld von Entdeckungen ist das Programm zum südkoreanischen Kino der 1960er-Jahre. Einige der Filme wurden erst kürzlich vom nationalen Filmarchiv restauriert. Zum Beispiel Yo Hyun-moks „Obaltan“ (1961), ein Schlüsselwerk des realistischen Kinos, das von den traumatischen Nachwirkungen des Krieges erzählt. Hauptfigur ist der kleine Angestellte Cheol-ho, der sich mit quälenden Zahnschmerzen durch den Tag schleppt, während sein Bruder zum Bankräuber wird, seine Schwester in die Prostitution abgleitet und die im Krieg irre gewordene Mutter gebetsmühlenartig zur Flucht ruft.

„Goryeojang“ (1963) von Altmeister Kim Ki-young verarbeitet die jüngere Geschichte seines Heimatlandes, die April-Revolution von 1960, dagegen auf morbide und am Horror-Genre angelehnte Weise. Der Titel bezieht sich auf den mythischen Brauch, die betagten Eltern auf einen Berg zu tragen und sie dort zum Sterben zurückzulassen. Und tatsächlich mündet die in einer Hungerperiode angesiedelte Geschichte um eine Witwe und ihren verkrüppelten Sohn in einem Finale, in dem diese Praxis – wenn auch nicht ganz freiwillig – Anwendung findet. Die komplett überspannte Abschiedsszene auf einem Feld von Skeletten, das jeden Schritt zum Eiertanz macht, wird man so schnell nicht vergessen.

Esther Buss

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