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Die letzten Vorbereitungen für das 76. Cannes Filmfestival. Der Hype um „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ ist bereits in vollem Gang.

© action press/Splash News

Filmfestival Cannes: Ein Ökosystem für das Kino

Indiana Jones, Pixar, Martin Scorsese und zwei Mal Wim Wenders: Cannes versucht mit seinem Programm die Quadratur des Kreises und stemmt sich gegen die Kinokrise.

Von Andreas Busche

Die französische Streikkultur ist fast so lebendig wie die französische Cinephilie. Die Stadt Cannes mag das nicht ganz so begeistert sehen. Zumindest lässt sich das aus ihrer Ankündigung in der vergangenen Woche schließen, während der am Dienstag beginnenden Filmfestspiele eine Bannmeile rund um die Croisette zu errichten. Die Arbeitergewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) plant Demonstrationen im Umfeld der zwölftägigen Glamourveranstaltung, die ihren Anliegen einen Platz in den Nachrichten sichern würden.

Man stelle sich nur vor: Die Regisseurin Maïwenn und ihr angeschlagener Star Johnny Depp schreiten während der Eröffnungsveranstaltung für ihren Film „Jeanne du Barry“ über den roten Teppich des Grand Théâtre Lumière, begleitet vom Töpfeklappern der Demonstrierenden (so die Drohung). Proteste auf dem roten Teppich haben in Cannes Tradition – aber eben nur, wenn diese Rituale Teil der Feierlichkeiten sind.

Bannmeile um die Croisette

Seit Anfang März wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen Emmanuel Macrons umstrittene Rentenreform erschüttert. Die CGT, selbst Gründungsmitglied des Filmfestivals, hat die Croisette als geeignete Bühne für weitere Kundgebungen ausgemacht.

Nicht nur die zahllosen schlecht bezahlten Angestellten aus der für den Festivalbetrieb so wichtigen Gastronomie- und Hotelbranche werden dem Aufruf am 21. Mai folgen. Auch die ungleiche Behandlung von Frauen in der Filmbranche, so die CGT-Vertreterin Celine Petit, soll zur Sprache kommen. „Aber sie wollen ihr Glitzerimage und die Festivalstandards nicht von uns beschmutzt sehen“, klagte Petit gegenüber dem US-Branchenmagazin „Variety“.

Sie wollen ihr Glitzerimage und die Festivalstandards nicht von uns beschmutzt sehen.

Gewerkschafterin Celine Petit über das Festival

Was wäre das größte und schönste Branchenevent ohne dieses Hintergrundrauschen und die kleinen Eklats am Rande? Zumindest den Sexismus-Vorwurf hat der künstlerische Leiter Thierry Frémaux, der sich immer als Fürsprecher der Frauen verstand (dann aber doch, wie durch ein Wunder, wieder nicht genug Regisseurinnen für seinen Wettbewerb fand), in diesem Jahr elegant gekontert. Mit sieben Regisseurinnen allein in der Konkurrenz um die Goldene Palme stellt Frémaux einen Cannes-Rekord auf – woran er selbst gerne erinnert. Dazu wird das Festival am Dienstagabend von einer Frau eröffnet.

Eklats um den roten Teppich

Maïwenn kommt allerdings mit einigem Gepäck an die Croisette, nämlich mit Hauptdarsteller Johnny Depp an ihrer Seite. Dessen erster großer Teppich-Auftritt nach dem schändlichen Prozess gegen seine Ex-Frau Amber Heard wird selbst im MeToo-resilienten Frankreich kritisch gesehen. Zudem läuft auch gegen die französische Regisseurin eine Klage: Sie hatte nach einem Enthüllungsartikel über ihren Ex-Mann Luc Besson, dessen Verfahren zum Vorwurf mehrfacher Vergewaltigung inzwischen eingestellt wurde, den Journalisten kürzlich in einem Restaurant angegriffen und bespuckt.

Im Februar erhielt Sandra Hüller den Ordre des Arts et des Lettres. In Cannes ist sie in zwei Wettbewerbsfilmen zu sehen.
Im Februar erhielt Sandra Hüller den Ordre des Arts et des Lettres. In Cannes ist sie in zwei Wettbewerbsfilmen zu sehen.

© imago/Future Image/IMAGO/Clemens Niehaus

Die Häufigkeit, mit der sich Frémaux immer wieder selbst in die Bredouille reitet, hat fast etwas Tagikomisches – wenn es nicht so betrüblich wäre. Auch die Nominierung von Catherine Corsini, zuletzt mit der Gelbwesten-Komödie „In den besten Händen“ im Palmen-Wettbewerb und in den deutschen Kinos, stieß nicht überall in der Branche auf Zuspruch. Die französische Regisseurin verfügt einigen Crewmitgliedern zufolge über ein herrisches und leicht reizbares Temperament. Auch sollen am Set von „Le Retour“ minderjährige Darsteller:innen bei Sexszenen nicht ausreichend geschützt worden sein. Am Ende stand Aussage gegen Aussage. Frémaux hatte den Film zunächst nicht berücksichtigt, dann aber nachträglich eingeladen.

MeToo or not to Be

Immerhin widerstand Frémaux der Versuchung, die fertigen Filme von Woody Allen und Roman Polanski an die Croisette einzuladen. Im vergangenen Jahr hatte ein von der Pressestelle zensiertes Interview des US-Branchendienstes „Deadline“ mit dem Cannes-Chef noch für Missstimmung gesorgt. Frémaux soll darin „kontroversen Filmemachern“ eine mögliche Einladung für künftige Festivalausgaben in Aussicht gestellt haben. Allen und Polanski sind in diesem Jahr nun kein Thema mehr. Cannes steht im Zeichen eines umfassenden Wandels, wie Frémaux in Interviews betont. MeToo or not to Be.

Mit Martin Scorseses lang erwartetem Historienkrimi „Killers of the Flower Moon“, der sechsten Zusammenarbeit des Hollywood-Veteranen mit Leonardo DiCaprio, hat Frémaux einen echten Coup gelandet. Der Cannes-Chef hält sich damit auch die ständigen Nachfragen wegen seines Nichtverhältnisses zu Netflix vom Leib: Der Produzent Apple hat bereits vor einer Weile angekündigt, Scorseses Film in die Kinos bringen zu wollen. Damit hätte „Killers of the Flower Moon“ theoretisch sogar im Wettbewerb laufen können. Aber Scorsese ist mit seinen 80 Jahren wohl zu lange im Geschäft, als dass er noch Preise benötigt. Er dreht längst in seiner eigenen Liga. Die Goldene Palme gewann er bereits 1976 mit „Taxi Driver“.

Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in Martin Scorseses historischem Krimidrama „Killers of the Flower Moon“, das von Apple produziert wurde.
Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in Martin Scorseses historischem Krimidrama „Killers of the Flower Moon“, das von Apple produziert wurde.

© dpa/Apple TV

Frémaux unterstreicht indessen, wie ernst es ihm mit seinem Kampf für das Kino ist. Die Streamingdienste haben gefälligst auf die Festivalbedingungen einzugehen. Oder sie müssen halt nach Venedig. Mittlerweile gefällt er sich in der Rolle des elder statesman des Kinos; Filme heißen in seinen salbungsvollen Reden neuerdings nur noch „Kino-Objekte“.

Selbst Kintopp wie „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“, der unter großem Getöse – und flankiert von Harrison Ford und „Fleabag“-Star Phoebe Waller-Bridge – in der ersten Festivalwoche die Attraktionen einer fast vergessenen Blockbuster-Ära beschwört, passt in diese Vorstellung von Kino-Preziosen. So wie vergangenes Jahr „Top Gun: Maverick“, für den Macron sogar eine Fliegerstaffel bereitstellte.

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Regisseurinnen nehmen dieses Jahr am Palmen-Wettbewerb teil, ein Rekord

Man kann in diesem Jahr also gar nicht genug betonen, was für ein Zirkus Cannes immer noch und immer wieder ist. Das hat nicht zuletzt mit der Pandemie zu tun, die das Kino und das Ökosystem Filmfestival weiter unter Druck gesetzt hat. Die großen Hollywoodstudios bekommt man nur noch, wenn sie bevorzugt behandelt werden, wie es Disney mit „Indiana Jones“ und dem Pixar-Film „Elemental“ (zum Abschluss des Festivals) zugestanden wird.

Cannes-Veteran Wim Wenders ist mit zwei Filmen an der Croisette vertreten, einem 3D-Dokumentarfilm über Anselm Kiefer und dem im Tokio gedrehten „Perfect Days“.
Cannes-Veteran Wim Wenders ist mit zwei Filmen an der Croisette vertreten, einem 3D-Dokumentarfilm über Anselm Kiefer und dem im Tokio gedrehten „Perfect Days“.

© dpa/Markus Scholz

Auch ein Boutiquestudio wie A24, spätestens mit dem Oscar-Gewinner „Everything Everywhere All at Once“ zum ganz großen Player aufgestiegen, lässt sich inzwischen umwerben. Es ist mit „The Zone of Interest“ von Kultregisseur Jonathan Glazer in Cannes vertreten. Die Verfilmung von Martin Amis’ Roman über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seine Frau, gespielt von Sandra Hüller, gehört zu den meistantizipierten Filmen im diesjährigen Wettbewerb.

Damit ist grob der Drahtseilakt beschrieben, den Thierry Frémaux von Jahr zu Jahr mit seinem Programm unternimmt: zwischen „Indiana Jones“, Pixar und dem internationalen Arthouse-Kino von Pedro Almodóvar (ein Mini-Western mit Ethan Hawke und Pedro Pascal) und Ken Loach über Alice Rohrwacher, Aki Kaurismäki bis zu Catherine Breillat und Todd Haynes. „Euphoria“-Regisseur Sam Levinson bringt für den Pilotfilm seiner nicht realisierten Serie „The Idol“ den Pop-Rapper The Weeknd mit an die Croisette, Cate Blanchett schaut als Produzentin von Warwick Thorntons „The New Boy“ vorbei, in der Reihe Un Certain Regard. 

Wie viel Wert Frémaux auf Tradition legt, das zeigt sich nicht nur in der Rückkehr von Martin Scorsese, sondern auch mit der Einladung gleich zweier Filme von Wim Wenders, eines 3D-Dokumentarfilms über Anselm Kiefer sowie der in Tokio gedrehten, melancholischen Komödie „Perfect Days“ über einen Toilettenreiniger. Damit ist das deutsche Kino erstmals seit Fatih Akin 2017 wieder im Wettbewerb vertreten.

Dass der 77-jährige Wenders die Kastanien aus dem Feuer holen muss, ist allerdings kein gutes Omen für den Zustand des deutschen Kinos. Es spricht auch nicht unbedingt für Frémaux, der schon bei der Programmverkündung einen „Wettbewerb der Entdeckungen“ ausgerufen hatte. Entdeckungen macht man in Cannes in diesem Jahr voraussichtlich wieder nur in der Reihe Un Certain Regard.

Erfreulich allerdings, dass Sandra Hüller in gleich zwei vielversprechenden Wettbewerbsbeiträgen zu sehen ist, neben dem Glazer-Film außerdem im französischen Historiendrama „Anatomy of a Fall“ von Justine Triet. Hüller, deren internationale Karriere in Cannes begonnen hat, ist ein Glücksfall für das europäische Kino. Dank ihr strahlt der „Toni Erdmann“-Stern noch etwas länger über der Croisette.

Auffällig sind in diesem Jahr umgekehrt auch die vielen Hollywoodstars in europäischen Produktionen. Wer daraus etwas über die Entwicklung des amerikanischen Kinos ablesen will, liegt möglicherweise nicht ganz falsch. Vom Cannes-Programm lassen sich immer ein paar Trends ableiten. Möge die Kaffeesatzleserei beginnen.

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