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Faszination, Verachtung, Angst: Wie der große Thomas Wolfe das Deutsche Reich erlebte

Der US-Literat begab sich zwischen 1926 und 1936 auf Deutschlandreisen. Er war beeindruckt, ahnte aber auch Böses. Seine Eindrücke lassen sich nun nachlesen.

Als Thomas Wolfe 1926 erstmals nach Deutschland reist – ins Land seiner Vorfahren –, machen gerade die Physiognomien der Männer Eindruck auf ihn.

„Es gibt eine Sorte Deutscher – junge Herren mit Duellnarben im Gesicht und ältere mit rasierten Kugelköpfen, Schweinsäuglein und drei Wülsten über dem Kragen hinten –, die ich wirklich, wirklich nicht mag!“

Dennoch ist die Faszination, die von Deutschland ausgeht, gewaltig. Und nach und nach übersteigt die Zuneigung für dieses merkwürdige Volk Wolfes Idiosynkrasien.

Thomas Wolfe, der zwischen 1926 und 1936 Deutschland sechsmal besucht und zusammengerechnet acht Monate im Land verbringt, ist seltsam eingenommen und berührt von den Landschaften und Menschen.

Nicht dass er, was er vorfindet, immer gleich begreifen könnte. Aber verstehen will er es unbedingt, dieses Deutschland, das ihm einerseits abstoßend und bierselig erscheint, andererseits voller „Geistesgröße“.

Beeindruckt von mittelalterlichen Städten und hübschen Mädchen

Zwischen diesen Polen – dem Rohen und dem Geistigen – bewegt er sich auf seiner Grand Tour d’Allemagne. Immer wieder notiert er, was er in den Schaufensterauslagen der Buchhandlungen entdeckt – Bücher von Thomas Mann, Jakob Wassermann oder Stefan Zweig, aber auch Schiller und Heine.

Er bewundert Goethe und besucht das Goethe-Haus in Frankfurt. Ausgerechnet dort stolpert ihm James Joyce über den Weg. Es kommt sogar zu einem kurzen, belanglosen Dialog – „er wollte nett sein, und ich erstarrte in Ehrfurcht vor ihm.“

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Wolfe besucht Museen, ist beeindruckt von den mittelalterlich geprägten Städten. Und von den hübschen Mädchen. Er kommt viel herum, logiert in Stuttgart und München, Köln und Mainz, Oberammergau und Freiburg, Leipzig und Berlin.

Später, als sein erster Roman „Schau heimwärts, Engel“ 1932 in Deutschland ein Erfolg wird, reicht man ihn in Intellektuellenkreisen herum wie eine Berühmtheit. Fürstlich wird er von seinem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt hofiert.

Vielfältigste Eindrücke muss er verarbeiten, und wie einst Mark Twain amüsiert er sich über deutsche Wörter und Grammatik: „Ich glaube, ich werde ihre hässlich-kraftvolle Sprache mögen, weil sie damit bauen wie ein Kind mit Bauklötzen und weil ihre Städte Spielzeugstädte sind.“

Auf dem Oktoberfest prügelt er sich

Häufig streut er in seine Aufzeichnungen deutsche Begriffe ein – nicht immer korrekt, aber charmant und entlarvend, wie es übrigens auch Samuel Beckett getan hat in seinen Deutschland-Tagebüchern: „Gansbraten“, „Frauleins“ oder ein Monster-Kompositum wie „Bahnhofsplatzbauarbeitengesellschaftverein“.

Des Rohen wird Wolfe nicht nur ansichtig, er lernt es am eigenen Leib auf dem Oktoberfest kennen. Sturzbetrunken gerät er in eine Schlägerei, die etwas Archaisches in ihm freisetzt. Es ist fast, als würde er in diesem Moment all die Wut, die in diesem Land schlummert, nicht nur provozieren, sondern im Rausch auch in sich selbst erstmals wahrnehmen.

Ein Bierkrug zerschellt am Dickkopf des körperlich imposanten Thomas Wolfe. München, schreibt er später, hätte ihn fast umgebracht.

Europa sei von einem Vulkan aus Hass vergiftet

Der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich hat die verschiedenen literarischen Zeugnisse von Wolfes Deutschlandreisen zusammengestellt: Notizen, Postkarten, Briefe und fiktionale Erzählungen. Was Wolfe oft grob und eilig ins Notizbuch schreibt, arbeitet er in langen Briefen an seine Geliebte und Förderin Aline Bernstein oder seinen Freund und Lektor Maxwell E. Perkins aus. Die dritte Stufe der Verarbeitung: ein langer Zeitschriftenartikel und drei Erzählungen.

[Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise in sechs Etappen Hrsg. von Oliver Lubrich. Übersetzt von Renate Haen, Barbara von Treskow, Irma Wehrli. Manesse, München 2020. 410 Seiten, 25 €.]

Vor allem die Geschichte mit dem Titel „Nun will ich Ihnen was sagen“ ist bedeutsam. Sie hat in leicht veränderter Form in den Roman „Es führt kein Weg zurück“ Eingang gefunden. Vor allem aber markiert sie eine Veränderung in Thomas Wolfes Verhältnis zu Deutschland.

Im Mai 1935 schwärmt er in einem Brief an Perkins, dass die Deutschen das „kindlichste, freundlichste und am leichtesten zu beeindruckende Volk der Welt“ seien.

Zugleich erkennt er das Unheil, das sich zusammenbraut. Einmal bemerkt er, dass Europa einem Vulkan gleiche, „erfüllt von giftigem und verdichtetem Hass jeglicher Art“, einem Vulkan, „der jeden Moment auszubrechen droht“. Eine sich ausbreitende „Pestilenz“ diagnostiziert er.

Wolf ahnte den bevorstehenden Judenmord

Die Novelle „Nun will ich Ihnen was sagen“ resultiert aus dieser Wahrnehmung von Angst und Zwang. Sie ist auch das literarische Zeugnis einer Entfremdung von jenem Deutschland, das Wolfe zu kennen glaubte. Auf einer Zugfahrt wird der Erzähler Zeuge der Verhaftung eines Juden.

Schaut er zunächst fast verächtlich und voller Ressentiment auf den nervösen, zappeligen Mann in seinem Abteil, verwandelt sich dieser Blick schließlich in empathische Sorge. Und in Abscheu gegenüber den Schergen des neuen Systems. Wolfe hat dieser Verhaftung, so schreibt Oliver Lubrich, im Sommer 1936 eine prophetische Bedeutung verliehen. „Er beschreibt sie als Deportation, die die Ermordung des Juden bedeuten wird. Gleich mehrfach fällt das Wort ,Tod‘.“

Tatsächlich findet eine Wandlung mit dem Erzähler statt. Und mit dem Autor Thomas Wolfe. Die tödliche Konsequenz dessen, was er als Pestilenz beschreibt, erlebt er zwar nicht mehr, aber er ahnt sie voraus. 1938, mit nur 37 Jahren, stirbt dieser Hoffnungsträger der amerikanischen Literatur, den William Faulkner seinerzeit das größte Talent seiner Generation nannte.

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